Born: „Sprachlosigkeit überwinden, um Demokratie zu stärken“
Zeitzeugen spielen in der Vermittlung von Geschichte eine Schlüsselrolle: Durch ihre Erinnerungen an persönliche Erlebnisse, die ihr Leben für immer geprägt haben, kann eindrücklicher als in jedem anderen Format Geschichte hautnah erlebbar und damit greifbar werden.
Durch die größer werdende zeitliche Distanz wird die Begegnung mit Zeitzeugen der NS-Diktatur zunehmend schwieriger und gleichzeitig umso bedeutender, um das Erlebte vor dem Vergessen zu retten.
Schon allein deshalb wurde die dritte Ausgabe der Kurpfalz-Horizonte von Landtagsvizepräsidenten Daniel Born zu einer besonders beeindruckenden und bewegenden Veranstaltung, denn Born hatte unter dem Titel „Erinnern für die Zukunft“ einen ganz besonderen Zeitzeugen zu Gast: Aus Frankfurt war Gerhard Wiese angereist, der letzte lebende Ankläger im Ausschwitzprozess. Der heute 95-jährige hatte damals als junger Staatsanwalt die Anklage vertreten und die Anklageschriften gegen Wilhelm Boger und Oswald Kaduk, zwei der 22 Angeklagten, verfasst. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass in einem der größten Prozesse der Nachkriegszeit durch einen tiefen Einblick in die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten das Leugnen der Taten unmöglich wurde.
Im gut besuchten Josefshaus in Schwetzingen begrüßte Simon Abraham, Vorsitzender der SPD Schwetzingen, die Gäste. In seiner Ansprache umriss er das Thema des Abends: die Bedeutung, die der Erinnerung für eine gute Zukunft zukommt: Wie kann der Appell „Nie wieder“ ein Zukunftsversprechen sein und bleiben – gerade auch für Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland?
Nach dem musikalischen Beitrag von Philipp Wolfart und Michael Quast von der Musikschule Bezirk Schwetzingen, die die Stimmung des Abends wunderbar in ihrem Spiel spiegelten, eröffnete Daniel Born die Gesprächsrunde und interviewte zunächst Gerhard Wiese. Der ehemalige Staatsanwalt ließ das Publikum anschaulich an seinen faszinierend präzisen Erinnerungen teilhaben: an den aufwändigen Ermittlungen „ohne Computer, ohne Handy – der Fernschreiber stand hoch im Kurs“, aber auch an den Emotionen der Zeugen, die nach Jahren des Verdrängens Fremden gegenüber die schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens aus der Erinnerung in die Gegenwart holen mussten.
Die Wertschätzung der Gäste dafür, dass Wiese die Kraftanstrengung eines persönlichen Besuchs auf Einladung des SPD-Landtagsabgeordneten auf sich genommen hatte, war greifbar: Den Besuchern war die einmalige, nicht wiederkehrende Gelegenheit bewusst, diesen Zeitzeugen live zu erleben. Solange die Kräfte reichen, um davon zu erzählen, was der Auschwitzprozess über die Mordfabrik des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zu Tage gefördert hat, möchte Wiese davon erzählen – ganz besonders jungen Menschen.
„Gerhard Wiese begegnen zu dürfen, ist ein Geschenk an uns alle. Seine Mission, seine Geschichte und damit einen wichtigen Teil der Geschichte der deutschen Demokratie zu erzählen, ist von unschätzbarem Wert, damit der menschenverachtende Terror niemals in Vergessenheit gerät. Sein Beitrag gegen das Vergessen ist Teil des Lernprozesses, der unsere Demokratie stark gemacht hat“, so Born.
Neben Gerhard Wiese hatte Daniel Born an diesem Abend weitere hochkarätige Gäste eingeladen. Mit Dr. Harald Stockert, dem Direktor des MARCHIVUMS in Mannheim, saß der ideale Gesprächspartner für die historische Einordnung auf dem Podium. So schilderte Stockert zum Beispiel eindrücklich, wie in den Jahren des Wiederaufbaus der deutschen Demokratie Überlebende jüdischen Glaubens in eine Heimat zurückkehrten, die sich nicht mehr wie ihre Heimat anfühlte. Das Stadtarchiv Mannheim, das Stockert seit August leitet, hat sich seit vielen Jahren die Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Opfer zur Aufgabe gemacht. Im 1. Obergeschoss des ehemaligen Weltkriegsbunkers geht die multimediale Dauerausstellung „Was hat das mit mir zu tun?“ den Fragen nach, was sich verändert, wenn eine Demokratie von einer Diktatur zerstört wird und wie der demokratische Wiederaufbau gelingen kann.
Dass es 1945 keine „Stunde Null“ geben konnte, ganz besonders nicht für die Überlebenden der Schoa, machte auch Prof. Dr. Heidrun Deborah Kämper deutlich. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mannheim hob die große Genugtuung hervor, die der Auschwitzprozess als wichtiger Schritt der Aufarbeitung für die Juden bedeutete. Lisa Strelkowa, die sich in der Jüdischen Studierendenunion Württemberg engagiert, berichtete, wie sehr der aktuelle Antisemitismus für junge Juden Sicherheiten in Fragen stellt: „Man entwickelt als junger Mensch jüdischen Glaubens ein kompliziertes Verhältnis zu seinem Heimatland“, beschreibt sie die Ambivalenz, die sie wie viele ihrer Freunde und Bekannten empfindet. Das Judentum gehöre selbstverständlich zu Deutschland – und gleichzeitig fühlten sich junge Juden in Deutschland angesichts von wachsenden Feindseligkeiten fremd im eigenen Land. Die Schilderungen beider Frauen, dass der Hamas-Terror auch Juden in Deutschland „den Boden unter den Füßen weggerissen“ und Erinnerungswunden wieder aufgerissen habe, machten auf beklemmende Weise deutlich, wie die Massaker und Verschleppungen der Terrororganisation auch für Juden in Deutschland Schwere und Unsicherheit in den Alltag gebracht haben.
Daniel Born war sich mit seinen Gästen, deren unterschiedliche Perspektiven der Gastgeber souverän miteinander verknüpfte, einig, was zu tun sei, um die Demokratie zu schützen und Antisemitismus zu bekämpfen: Für ein gutes Miteinander sei es wichtig, Vorurteile zu enttarnen, einander mit Respekt und echtem Interesse zu begegnen und sich über die gemeinsamen Werte zu verständigen.
„Damals wie heute geht es darum, Sprachlosigkeit zu überwinden. Erinnerung ist kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung dafür, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen“, so Born. „Wir brauchen eine wehrhafte Demokratie. Und wir spüren, wie sehr unsere Demokratie derzeit unter Druck steht und wie der zunehmende Antisemitismus das Miteinander vergiftet“, so der Schwetzinger Abgeordnete. „Wir machen unsere Demokratie stark, indem wir uns immer wieder der Menschenwürde als oberstem Wert des Grundgesetzes gewahr werden: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ohne die rechtsstaatliche Aufarbeitung der Verbrechen von Auschwitz, wären das nur Buchstaben. Es reicht nicht – das zeigt uns die Gegenwart – diesen Satz einmal im Grundgesetz niederzuschreiben. Dass diese Demokratie weiterlebt und stark bleibt, ist viel mehr ständige Aufgabe und Herausforderung. Und dazu gehört das Erinnern.“
Quelle: Anja Wilhelmi-Rapp