„Geld hat dieses Land mindestens genauso zerstört wie Gewehrkugeln“
Afghanistan ist ein von vielen Krisen geschundenes Land – den meisten Menschen dürfte das hierzulande bewusst sein. Wie die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in dem Land wirklich sind, wahrscheinlich eher nicht. Viel zu komplex erscheint die Lage in einer Region der Erde, die weit weg ist und in den Nachrichten meist nur im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten auftaucht.
Gut, dass es Menschen wie Wolfgang Bauer gibt.
Der erfahrene Journalist hat sich auf das Schreiben von Reportagen in Krisenregionen spezialisiert und bereist Afghanistan seit über 20 Jahren regelmäßig. „Ich habe die Form der Reportage gewählt, weil man da den Menschen am nächsten kommt“, erläutert Bauer, als er in der Stadtbücherei Walldorf sein Buch „Am Ende der Straße – Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern“ vorstellt.
Darin beschreibt er seine Reise auf der sogenannten Ring Road, einer Straße, die das ganze Land verbinden soll. Eigentlich. Denn so richtig fertiggestellt wurde die Straße nie. Wolfgang Bauer konnte einen großen Teil der Straße nach der Machtübernahme durch die Taliban im Herbst 2021 erstmals im vergangenen Jahr befahren. Zuvor war die Straße Teil des Schlachtfelds und viel zu gefährlich, um sich für längere Strecken darauf zu bewegen.
Bauer bereiste die Ring Road, suchte Orte wieder auf, die er in den letzten 20 Jahren besucht hat – und ging der Frage nach: Warum ist der Westen in Afghanistan gescheitert?
Die Veranstaltung macht deutlich: Wer Afghanistan verstehen will, muss Menschen wie Wolfgang Bauer zuhören. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Journalist ein Netzwerk im Land aufgebaut, das ihm seine Reportagen erst ermöglicht habe. Über die Menschen, die zu diesem Netzwerk gehören, spricht Bauer ausführlich und verdeutlicht deren Schicksal und auch die Zerrissenheit, die in diesem Land herrscht. „Afghanistan ist ein Sammelsurium von Völkern. Das einzige Verbindende ist der Schmerz der vielen Kriege und das Misstrauen gegeneinander.“
Bauer schildert eindrucksvoll, wie dramatisch sich die Lage in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban im Herbst 2021 verändert hat. Die größte Errungenschaft in den vergangenen 20 Jahren sei die Stärkung der Frauenrechte gewesen. Das wurde nun wieder rückgängig gemacht. Weil aus dem Ausland kein Geld mehr fließt, grassiert die Armut. Das macht Bauer am Beispiel der Hauptstadt Kabul deutlich. Dort pulsierte das Leben, in den Straßen herrschte Stau. Das sei nun vorbei, Geschäfte, Restaurants und Cafés mussten schließen, kaum einer kann es sich noch leisten auszugehen. „Kabul ist eine Stadt der Gespenster für mich“, sagt Bauer.
Eine spezielle „Währung“ sichert vielen das Familieneinkommen: das Verheiraten der Töchter. Auch wenn diese erst sieben und neun Jahre alt sind, wie Bauer am Beispiel eines ihm bekannten Afghanen erzählt. „Geld hat das Land mindestens genauso zerstört wie Gewehrkugeln“, sagt Wolfgang Bauer einmal, als er sich zur gescheiterten Strategie des Westens äußert, Afghanistan zu demokratisieren und wirtschaftlich wieder aufzubauen. Korruption sei in Afghanistan ein normaler Bestandteil der Kultur, im Kleinen eine „Nachbarschaftshilfe“, die den Alltag der Menschen leichter und daher durchaus „Sinn macht“. Die vielen Milliarden Dollar, die vom Westen ins Land gepumpt wurden, hätten das Land jedoch vergiftet, wendet Bauer ein, der kein gutes Haar an der Entwicklungshilfe auch aus Deutschland lässt. Diese müsse komplett neu gedacht werden. „Wir brauchen eine neue Generation von Entwicklungshelfern, die die Geduld aufbringen, sich in den Mikrokosmos eines Landes einzuarbeiten“, fordert Bauer, statt einfach nur „Geld in diese Länder zu schütten“.
Er habe wenig Hoffnung auf Besserung der Zustände in Afghanistan in naher Zukunft, erwidert Wolfgang Bauer auf eine Frage aus dem Publikum. Die Hoffnung müsse man im Kleinen suchen: So würde stellenweise der Anbau von Rosen von hervorragender Qualität den Bauern mehr Geld einbringen als der Anbau von Drogen. Bauer sprach auch die Handwerkskunst, etwa im Bereich der Glasbläserei, an, die sich über die Jahrhunderte entwickelt habe und einigen Menschen ebenfalls ein Einkommen sichern könne.
Eine positive Geschichte hat der Autor gleich mitgebracht: Moradasa Mirzad hat Wolfgang Bauer nach Walldorf begleitet und nimmt am Ende der Lesung neben ihm auf der Bühne Platz. Die Geschichte der 21-jährigen Frau verläuft in ihrem Heimatland zunächst ebenso tragisch wie so viele andere auch. Ihr Vater arbeitet eine Zeit lang für eine deutsche Hilfsorganisation in Afghanistan. Das bringt Menschen dazu, einen Anschlag auf ihn zu verüben, der Vater wird von mehreren Kugeln getroffen, überlebt aber. Auch einer ihrer Brüder wird angeschossen. Sie selbst geht während dieser Zeit nach Kabul, um zu studieren. In der Hauptstadt, weit weg von ihrer Heimat, wähnt sich die junge Frau sicher. Aber auch sie wird eines Abends von vier Männern abgefangen und niedergestochen. Ein sicheres Leben in Afghanistan ist für sie nicht möglich.
Wolfgang Bauer, der von dem Schicksal der Familie erfährt, versucht alles, um diese nach Deutschland zu holen. Für Moradasa Mirzad, ihren Vater sowie zwei ihrer Brüder nimmt die Geschichte 2021 vorläufig ein gutes Ende: Sie finden in Reutlingen, Bauers Wohnort, ein neues Zuhause. Die Mutter, ein weiterer Bruder sowie zwei Schwestern sind immer noch in Afghanistan und sie ebenfalls nach Deutschland zu holen, ist laut Bauer zurzeit kaum möglich.
Und wie lebt es sich nun in Deutschland? Die junge Frau fühlt sich „wie ein neugeborenes Baby“. Alle sei neu, anders. Sie könne sich nun mit Freundinnen auf einen Kaffee treffen oder Fußball spielen. Als erste Frau breche sie die Regeln ihrer Familie: Mit 21 Jahren ist sie weder verheiratet, verlobt oder Mutter eines Kindes. Zurzeit habe sie einen Minijob, mache ihre Deutschkurse und habe noch gar keine genaue Vorstellung, was sie mit ihrer Zukunft machen werde. Nur eines wolle sie nicht: ihr altes Studium wieder aufnehmen, aus Angst vor „Flashbacks“ an ihre Zeit in Afghanistan. Das alles erzählt sie ohne eine Spur von Verbitterung, sondern mit einer geradezu ansteckenden Zuversicht, die zumindest in diesem Fall den Schluss zulässt: Es gibt Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Afghanen. Selbst wenn sie sich nicht immer im eigenen Land verwirklichen lässt.
Text und Foto: Stadt Walldorf