Holocaust-Überlebende besuchen ihre alte Heimat
Die Stadt Wiesloch informiert:
Der 22. Oktober 1940 ist ein denkwürdiger Tag in der Geschichte von Wiesloch: Vor 82 Jahren wurden 45 in Wiesloch und Baiertal lebende jüdische Einwohnerinnen und Einwohner verhaftet und in das Internierungslager Gurs in Südfrankreich am Rande der Pyrenäen deportiert. Von dort wurden sie in den folgenden Jahren in die Vernichtungslager Auschwitz, Sobibor und Majdanek transportiert und dort ermordet. 6.500 Juden in Baden und der Saarpfalz mussten das gleiche Schicksal erleiden. Der Gauleiter von Baden, Robert Wagner und der Gauleiter der Saarpfalz, Josef Bürckel, meldeten nach dieser Aktion stolz an das Führer-Hauptquartier in Berlin, dass ihre Gaue nun „judenrein“ seien.
In diesem Jahr war es für die Stadt Wiesloch eine ganz besondere Ehre, dass die beiden Überlebenden Paul Flagg geb. Flegenheimer und Joel Flegenheimer für einen längeren Besuch in ihre Heimatstadt gereist waren. Beide leben seit vielen Jahrzehnten in den USA.
Bereits vor 32 Jahren waren die beiden Zeitzeugen zu einem Besuch in Wiesloch und haben bei der damaligen Gedenkveranstaltung viele Wieslocherinnen und Wieslocher mit ihren Worten berührt. Im letzten Jahr waren die beiden Herren bei der Gedenkveranstaltung per Videokonferenz für ein Interview zugeschaltet. Nun stand die Fortführung des Zeitzeugen-Interviews mit Paul Flagg und Joel Flegenheimer, welches der ehemalige Stadtarchivar Manfred Kurz führte, im Fokus.
Schülerinnen und Schüler der Esther-Bejarano-Gemeinschaftsschule verlasen die Namen der Deportierten und entzündeten Kerzen. Drei Schülerinnen des Ottheinrich-Gymnasiums stellten das Internierungslager Gurs mit einer Präsentation vor. Für eine würdevolle, musikalische Umrahmung sorgte der Klarinettist Tim Ohlsson.
In seiner Begrüßung und Rede betonte Oberbürgermeister Dirk Elkemann, wie beeindruckt er vor einem Jahr war, dass Paul Flagg und Joel Flegenheimer, auf die Frage, ob sie mit dem Schicksal haderten, vor einem Jahr beim virtuellen Interview spontan und unisono mit „Nein!“ antworteten. „Gleichwohl hat unser Volk – die Deutschen – den beiden Übles angetan. An uns ist es daher, an die Gräuel von damals zu erinnern und dafür zu sorgen, dass es nie wieder zu solchen Taten kommt“, so Elkemann, „Und was könnte authentischer sein für die Erinnerung als Augenzeugen? Deshalb möchte ich nochmals betonen, dass es mir eine große Freude und eine ganz besondere Ehre ist, dass Sie, lieber Paul Flagg und lieber Joel Flegenheimer den weiten Weg auf sich genommen haben, um an dieser Gedenkveranstaltung teilzunehmen.“ Es sei unsere Verantwortung zu erinnern, um Verantwortung für unser aller Zukunft zu übernehmen. Denn nur wer Verantwortung auf sich nehme, könne Verschwörungsmythen und Antisemiten aktiv Einhalt gebieten.
„Und nur wer sich dem Erinnern stellt, kann Verantwortung für unsere Gegenwart übernehmen“, so das Stadtoberhaupt, „Unsere Gesellschaft muss gegenüber Antisemitismus und Rassismus klar Stellung beziehen: „Allen Menschen steht das gleiche Recht auf Achtung und Würde zu!“
Als besonderen Gast durfte die Stadt Wiesloch den Beigeordneten Dominique Lafon aus der französischen Partnerstadt Fontenay-aux-Roses begrüßen, der aus französischer Sicht einige sehr persönliche Worte sprechen konnte. „We have to remember, again , again, again“, appellierte auch er nachdrücklich. Für ihn sei das Beispiel der Überlebenden aus Wiesloch ein Beweis dafür, dass, „Licht stärker als die Dunkelheit ist“. „You are the light“, richtete er seine Worte direkt an die Zeitzeugen und dankte ihnen für das Teilen ihrer Geschichte.
In einem ausführlichen Interview zeichneten Paul Flagg geb. Flegenheimer und Joel Flegenheimer im Gespräch mit dem ehemaligen Stadtarchivar Manfred Kurz ihr bewegtes Leben nach. Erinnern konnte sich Paul an sein Leben als Kind und Jugendlicher in Wiesloch. Joel war 1940 erst ein Jahr alt. Anhand von Bildern und dezidierten persönlichen Erinnerungen, die auch viele Jahrzehnte später noch klar waren, wurde der inzwischen hochbetagte Paul wieder zum Kind, Jugendlichen und jungem Mann und erlebte mit der Assistenz und den Fragen von Manfred Kurz das Leben vor der Deportation in Wiesloch nach und berichtete, wie er danach mit viel Glück, Zufällen und Wendungen des Schicksals überleben konnte. Schließlich in die USA auswanderte und dort erfolgreich wurde und ein gutes Leben führen konnte. Dort traf er auch seinen Cousin Joel wieder, der als Kind nach dem Krieg ebenfalls in die Vereinten Staaten zu Verwandten übersiedelt wurde und dort ebenso seinen Weg erfolgreich und glücklich gehen konnte.
Das Fazit von Paul Flagg: „All that i can say is that I’m lucky, I’m alive“, (Übersetzung der Red. – „Alles was ich sagen kann, ist das ich glücklich bin, am Leben zu sein“) und Joel Flegenheimer ergänzte „I’m lucky too.“ (Übersetzung der Red. – „Ich bin auch glücklich“) Der Applaus im Stehen des Publikums zollte beiden nochmals den gebührenden Respekt.
Quelle: Stadt Wiesloch
Ein emotionales Wiedersehen nach vielen Jahrzehnten – Mehr dazu bei den Kollegen von Pressemeier:
Vergangenheitsbewältigung einer deutschen Stadt und ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Im achten Jahr meiner Nebentätigkeit als Lokalreporter und freier Journalist blicke ich auf unzählige Treffen mit interessanten Menschen zurück. Beziehungsweise Menschen mit interessanten Geschichten oder tragischen Schicksalsschlägen.
Ich führte auch ein Interview mit einem ehemaligen Hitlerjungen und NSDAP-Mitglied. „Ich war nur ein Mitläufer“ hörte ich den 96-Jährigen sagen. Ich kann und mag die Aussage nicht beurteilen. Und erst recht ist es nicht meine Aufgabe zu urteilen. Meine journalistische Aufgabe ist es, Fragen zu stellen. Auch kritisch zu hinterfragen.
Bei Deportation und Vernichtungslager stellt sich doch zwangsläufig die Frage. Wie konnte das geschehen? Wie konnte man das zulassen?
„Wenig Widerspruch der Bevölkerung“ und „Sachdienliche Staatsdiener“ ermöglichten das damalige Unrecht. Später wollte keiner was gewusst haben, und keiner war dabei. So beschreibt es die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg oder auch die Geschichte Wieslochs, wie in der Wieslocher Stadtbücherei nachzulesen ist.
„Bevor ich in die NSDAP eintrat, war ich bei keiner Firma [!], ich war also völlig unpolitisch, mein Eintritt erfolge aus reinem Idealismus. Wie der Wieslocher kommissarische Bürgermeister Herrman Theodor Stöckinger verharmlosten viele Deutsche ihre Mitgliedschaft in der NSDAP oder ihre Verstrickung in die Strukturen des NS-Regimes. Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches wollte keiner „dabei“ gewesen sein. „Dabei“, das war die Umschreibung für die aktive Unterstützung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates und der ihn tragenden Organisationen, bis hin zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Das galt nicht nur für die vielen kleinen Parteimitglieder und sogenannte „Mitläufer“, sondern auch für die unteren Verwaltungseliten, die sich in der US-Zone einer Entnazifizierung „in Serie“ unterziehen mussten. Die Bürgermeister des Amtsbezirks und der Stadt Wiesloch bildeten hier keine Ausnahme. Sie nutzen allesamt ihr Spruchkammerverfahren. um ihr Wirken für den Unrechtsstaat zu verharmlosen oder zu leugnen.“ Zitat Buch „Wiesloch Beiträge zur Geschichte, Band 2, Seite 305, Kapitel „Widerstandskämpfer“ und „sachgerechte Staatsdiener – Entnazifizierung von NS-Bürgermeistern im ehemaligen Amtsbezirk Wiesloch unter besonderer Berücksichtigung der Gemeinden, Baiertal, Schatthausen und Wiesloch“
Bis Juli 1945 wurden alle amtierenden Bürgermeister im Amtsbezirk Wiesloch entlassen, verhaftet und interniert. Ende 1945 waren 42% der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes entlassen worden. Im März 1946 wurde das Befreiungsgesetz kurz BefrG verabschiedet, ein justizähnliches Laiengericht wurde geschaffen. Jeder Land- bzw. Stadtkreis bildete einen Spruchkammerbezirk. „Beim geringsten Verdacht, und der war bei ehemaligen Bürgermeistern schon in der Funktion begründet, begann die Ermittlungstätigkeit“.
Die Armeezeitung „Stars and Stripes“ schrieb am 15. April 1945: „Die Deutschen benehmen sich alle gleich, wenn man sie verhaften will. Sie sagen, sie hätten niemals ernsthaft an den Nationalsozialismus geglaubt.“ Weiter ist in der Onlineausgabe der Zeitung „Die Zeit“ folgendes zu lesen: „Sie haben die unglaublichsten Entschuldigungen für ihr Verhalten. Es spielt gar keine Rolle, ob sie 1927 oder 1939 in die Partei eintraten. Alle sagen, sie seien aus geschäftlichen Gründen zum Eintritt gezwungen gewesen – selbst jene, die bereits 1927 eintraten.“
Die Reichskristallnacht in Wiesloch – „Da sah ich einen evangelischen Kirchgemeinderat und Mitglied der Stadtverwaltung zur Stadtapotheke gehen. Von dort kam er mit einer größeren Schale Benzin wieder. Diese goss er über die Bücher und sagte – ich höre es noch wie heute – Dass er verbrennt der Judendreck“ berichtete ein Wieslocher Zeitzeuge. Mit Büchern waren die Gebetsbücher der Juden gemeint.
Stadtverwaltung, Sparkasse, Badenwerk und die Schulen waren damals Hochburgen der Nationalsozialisten, wie man in Band 3 der Beiträge zur Geschichte entnehmen kann.
Abschließend ein schöner Satz auf der Chronik der evangelischen Kirchengemeinde Schatthausen: „Denn wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“
Weiterführende Informationenen der Stadt Wiesloch zur Stadtgeschichte:
https://www.wiesloch.de/pb/Home/Ueber+Wiesloch/Geschichte.html
https://www.wiesloch.de/pb/Home/Ueber+Wiesloch/Juedisches+Leben+in+Wiesloch.html
https://www.wiesloch.de/pb/Home/Aktuelle+Nachrichten/gedenkveranstaltung.html
Weiterführende Informationen der Landesregierung BW:
https://www.leo-bw.de/themenmodul/juedisches-leben-im-suedwesten/gurs