Die Kraft der Mythen fasziniert noch heute
Die dritte Veranstaltung der Walldorfer Musiktage bildete ein Vortrag des städtischen Musikbeauftragten Dr. Timo Jouko Herrmann. Er beleuchtete darin den großen Einfluss der „Metamorphosen“ des römischen Dichters Ovid auf die Musik vom 16. Jahrhundert bis in die Neuzeit. Herrmann hatte seinen Vortrag mit Musikbeispielen von Purcell, Händel, Dittersdorf und anderen untermalt. Zudem waren auf der großen Leinwand der Astoria-Halle Projektionen historischer Stiche zum Thema zu sehen, die der Walldorfer Sammler Dr. Siegfried Tuengerthal zur Verfügung gestellt hatte.
Ovids episches Gedicht, das aus 15 Büchern zu jeweils etwa 700 bis 900 Versen besteht, bildet mit etwa 250 Einzelsagen gewissermaßen ein Kompendium der antiken Sagenwelt. Den gemeinsamen thematischen Kern dieser Geschichten bildet das Verwandlungsmotiv, die Metamorphose. Wie Herrmann ausführte, waren die „Metamorphosen“ für die Entwicklung der Oper von entscheidender Bedeutung. Die sogenannte Florentiner Camerata, ein Zusammenschluss von Dichtern, Musikern, Philosophen und Gelehrten, hatte es sich im ausgehenden 16. Jahrhundert zur Aufgabe gemacht, das antike Drama wiederzubeleben. Aus dieser Idee heraus entstand Mitte der 1590er Jahre die erste Oper. Ottavio Rinuccini verfasste hierzu ein auf der Episode um Apollo und Daphne basierendes Textbuch, das von den Camerata-Mitgliedern Jacopo Peri und Jacopo Corsi vertont wurde. Die Uraufführung des neuartigen Werkes fand vermutlich 1598 in Florenz statt. Im Prolog eröffnet der Dichter Ovid selbst den musikalischen Reigen – so, als hätte das Autorenteam die kommende Bedeutung von Ovids dichterischem Magnum Opus für die Operngeschichte vorausgesehen.
Herrmann wies darauf hin, wie groß die Begeisterung für die neue Gattung bereits kurz nach der Wende zum 17. Jahrhundert war. Einem Großteil der neu geschaffenen Bühnenwerke lagen Episoden aus den Ovid’schen „Metamorphosen“ zugrunde. Ein Hauptgrund hierfür mag in den meist nicht allzu komplexen Handlungen gelegen haben. Zudem fand sich in den Mythen eine Fülle verschiedener Topoi, für die es bereits musikalische Entsprechungen gab, wie etwa Jagd, Pastorale oder Lamento. Daneben boten die Sagen immer wieder gute Vorlagen für beeindruckende Bühnenbilder und spektakuläre Effekte. Dies war auch immer wieder auf den in der Astoria-Halle gezeigten Stichen von Nicolas Beatrizet (circa 1505 bis circa 1565), Hendrick Golitzius (1558-1617) oder Jacob Matham (1571-1631) zu bemerken, von denen tatsächlich manche wie Abbildungen spektakulärer Theaterszenen wirken. Die antike Fantasiewelt Ovids ermöglichte Dichtern und Komponisten auch, Chöre von Nymphen, Hirten, Meeresgöttern oder Höllengeistern in die Handlung einzubauen sowie charakteristische Tänze und Instrumentalmusik in den musikalisch-dramaturgischen Gesamtkontext zu integrieren. Das Musiktheater konnte so eine Vielzahl von Künsten unter einem Dach vereinen: Poesie, Solo- und Ensemblegesang, Instrumentalmusik, Tanz, Malerei und Architektur.
Doch nicht nur im Bereich der weltlichen Vokalmusik finden sich Adaptionen von Episoden aus Ovids Schöpfung. Auch in der Instrumentalmusik haben sich immer wieder Komponisten mit den antiken Mythen auseinandergesetzt. Der Haydn-Zeitgenosse Carl Ditters von Dittersdorf etwa schuf mit einer Serie programmatischer Sinfonien über Ovids „Metamorphosen“ einen ganz außergewöhnlichen Zyklus. In diesen Werken griff Dittersdorf populäre Stoffe aus dem Epos auf, die sich dank der darin verwendeten Topoi und ihrer Dramaturgie für eine Übertragung ins Instrumentale besonders gut eigneten. Als Beispiel für narrative Musik brachte Herrmann einen Ausschnitt aus Dittersdorfs Sinfonie „Die Versteinerung des Phineus und seiner Freunde“. Hier unterbrechen scharfe Trompetensignale eine fröhliche Hochzeitsmusik und leiten in eine erregte Kampfszene über. Auch hier zeigte sich also, wie hervorragend die Dramatik der textlichen Anlage bei Ovid geeignet war, musikalische Inspiration hervorzurufen.
Herrmann schloss seinen Vortrag mit einem Ausschnitt aus dem 1911 uraufgeführten Ballett „Narcisse et Echo“ des russischen Komponisten Nikolai Tcherepnin. Dessen hochpoetische, impressionistisch angehauchte Musik korrespondierte auf verblüffende Weise mit einem fein gearbeiteten Chiaroscuro-Holzschnitt, den Antonio da Trento (circa 1510 bis circa 1550) etwa 1527 bis 1530 nach einer Vorlage von Parmigianino (1503-1540) geschaffen hatte. Ein beindruckender Beleg dafür, wie die Kraft der antiken Mythen eine Hürde von Jahrhunderten überwinden kann und auch heute noch zu faszinieren vermag.
Am Ende gab es viel Applaus von Seiten des Publikums, das nach eineinhalb Stunden kein bisschen müde geworden war, den interessanten Ausführungen zu lauschen.
Dr. Timo Jouko Herrmann (li.) und Dr. Siegfried Thuengerthal
Text und Foto: Stadt Walldorf