Die Gefahr der großen sozialen Spaltung
Sozialpolitik sei sehr viel mehr als eine gesellschaftliche Verpflichtung gegenüber den Armen – „der Sozialstaat gibt dem Menschen eine Grundsicherheit“, sagt Hans-Josef Hotz. „Seine Rechte brauchen ebenso wie seine Pflichten ein Fundament, auf dem sie sich entfalten können“, fährt der Landesvorsitzende des Sozialverbands VdK fort. Sozialstaat und Demokratie gehören aus seiner Sicht „unstreitig zusammen“, sie bildeten „eine Einheit“. Das Fazit des mit viel Beifall bedachten Gastredners beim Neujahrsempfang der Stadt Walldorf: „Deshalb braucht die Demokratie unabdingbar den Sozialstaat – auch und gerade in schwierigen Zeiten.“
„Wir haben das Ohr bei den Menschen“, sagt Hotz über die Arbeit des Sozialverbands, der sich seit 75 Jahren für seine heute rund 2,2 Millionen Mitglieder in Deutschland einsetze. Allein in Baden-Württemberg besuchten jährlich 70.000 Menschen die Geschäftsstellen des VdK, um rechtliche Hilfe zu erhalten. „Daraus resultieren Jahr für Jahr mehr als 12.000 Widerspruchs- und Klageverfahren“, so der Landesvorsitzende. Dank der intensiven Beratungsarbeit wisse man aber auch, „welch wichtiges Anliegen die soziale Sicherheit den Menschen in unserem Land ist“. Das gelte ganz besonders für die Gegenwart.
Denn zu den aktuellen weltpolitischen Sorgen sei zum Jahresende auch noch die Haushaltskrise des Bundes gekommen, die zwar vordergründig beigelegt sei, „aber für den Sozialstaat garantiert nicht folgenlos bleiben wird“, befürchtet Hotz. Der Sparzwang auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene werde dazu führen, dass „unverzichtbare Angebote für Menschen in schwierigen sozialen Situationen, Regelzuschüsse für wichtige soziale Institutionen, notwendige Zukunftsinvestitionen zum Erhalt auch des inneren Friedens“ auf den Prüfstand kommen. Und das in einer Zeit, in der „die Gefahr einer großen sozialen Spaltung unserer Gesellschaft“ schon jetzt deutlich greifbar sei. Hotz zeigte auch auf, wie Politiker mit fälschlichen Aussagen – beispielsweise zur Rente mit 63, die es aber gar nicht gebe – „den angeblich ausufernden Sozialstaat bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Wurzel allen Übels darzustellen“. So habe man sich auch „in der unsäglichen Diskussion“ über die Leistungen zur Kindergrundsicherung „gegen den falschen Vorwurf hoher politischer Repräsentanten“ wehren müssen, diese Leistungen würden von den „Eltern für Tabak und Alkohol verbraucht“. Gewehrt habe sich der VdK ebenso „gegen das handwerklich schlecht gemachte Gebäudeenergiegesetz, das die Mieten für Sozialwohnungen exorbitant erhöht hätte“, oder gegen „inhaltlich nicht korrekte Aussagen einzelner Parteien zum Lohnabstandsgebot“.
„Arbeit muss sich lohnen“ sei auch die Grundüberzeugung des VdK. Der Sozialverband streite nicht ab, dass es immer Menschen gebe, „die ihren eigenen Pflichten nicht nachkommen wollen“, oder Bezieher von Bürgergeld, „die selbst zumutbare Jobangebote beharrlich verweigern“. Doch populistische Aussagen wie die Forderung, von den vier Millionen erwerbsfähigen Bürgergeldbeziehern „endlich ein paar in Arbeit zu bringen“, führten zu einer Verhärtung des sozialen Klimas. Denn, so Hotz: Zwei Drittel dieser vier Millionen Bürgergeldempfänger seien in Arbeit, verdienten dort aber so wenig, „dass sie einen zusätzlichen Anspruch auf Bürgergeld haben“.
Menschen, die heute an ihre finanziellen Grenzen kommen und sich vom VdK beraten lassen, kommen laut Hotz aus wichtigen systemrelevanten Berufen wie der Pflege, seien Angestellte in der Kinder- und Jugendhilfe, Paketzusteller, Friseurin und Friseur, Arbeitnehmer aus dem Gastgewerbe, alleinerziehende Mütter mit zwei Kindern, frühverrentete Büroangestellte, pflegebedürftige Schlaganfallpatienten oder die 80-jährige Witwe. „Diese ganz normalen Menschen sind meistens nicht aus eigenem Verschulden an den unteren Rand geraten.“ Und das seien keineswegs nur „ein paar wenige“, sondern, nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes und der Agentur für Arbeit, „25 Millionen Bürgerinnen und Bürger, mehr als ein Viertel unserer Bevölkerung“, die sich derzeit am unteren Einkommensrand befinde.
Zwar seien heute in Deutschland so viele Menschen wie nie zuvor beschäftigt, nämlich 46 Millionen, doch fast jeder Vierte verdiene weniger als 14 Euro in der Stunde. Gut 15 Prozent arbeiteten nur für den Mindestlohn. Das zeichne „für Millionen von Menschen schnurstracks den Weg in die Altersarmut“ vor, bedrohe den sozialen Zusammenhalt, drücke die Stimmung, führe zu Wut oder Depression und letztlich „wohl auch zur entsprechenden Quittung an den Wahlurnen“. Und es wirke sich ökonomisch aus, denn wer zum Sparen gezwungen sei, müsse den Konsum einschränken. Auch eine Erhöhung des CO2-Preises, auf den sich die Ampelkoalition verständigt habe und den man aus Klimaschutzgründen durchaus mittragen könne, treffe „die Ärmsten am härtesten“.
Hotz lenkte seinen Blick abschließend auf die gesetzliche Krankenversicherung und nannte Beispiele, wie Beitragserhöhungen für die Versicherten vermieden werden könnten. So müsse der Bund endlich seiner Finanzierungsverantwortung für die angemessenen Krankenversicherungsbeiträge für Bürgergeldbezieher nachkommen. Dass die Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen jährlich mit etwa vier Milliarden Euro die Krankenversicherungsbeiträge der arbeitslosen Menschen finanzierten, sei „eindeutig eine krankenkassenfremde Leistung“. Davon sei aber ein Großteil der Besserverdienenden, weil privat versichert, ausgenommen. „Solidarität sieht anders aus“, sagt Hotz. Aus der gesetzlichen Krankenversicherung würden im Jahr bis zu 57 Milliarden Euro „quasi zweckentfremdet“ und zur Bestreitung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben verwendet. Und auch in der gesetzlichen Rentenversicherung betrügen die versicherungsfremden Leistungen mindestens 38 Milliarden Euro. Statt diese aus Steuermitteln zu ersetzen, habe das Bundeskabinett beschlossen, den Bundeszuschuss um 600 Millionen pro Jahr zu kürzen. Ohne diese Entscheidung hätte der Beitragssatz sinken müssen, so aber gehe sie zu Lasten der Beitragszahler, während die Besserverdiener verschont blieben. Deutlich werde damit, „wie wichtig eine Bürgerversicherung wäre, damit alle – auch Politiker – verpflichtend in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen und damit von ihren eigenen Beschlüssen selbst betroffen wären“, so Hotz.
Text und Foto: Stadt Walldorf