„Ich weinte Tag und Nacht“
„Er war ein gebrochener Mann“, sagt Hans Oppenheimer durch den Mund von Friedrich E. Becht in einer Szene aus dem Jahr 1938 über seinen Vater Leopold. Der erfolgreiche Unternehmer, verdiente Ingenieur und hoch dekorierte ehemalige Unteroffizier der deutschen Wehrmacht ist erst enteignet, dann von der Gestapo verhaftet worden. Erst als er seine Abzeichen aus dem Ersten Weltkrieg vorzeigt, lässt man ihn wieder laufen.
Doch besser wird danach nichts: „Grauenhaft“, sagt sein anderer Sohn Max, gesprochen von Gert Weisskirchen, über die Ankunft im Lager Dachau.
„Wir hofften, dass der Spuk vorbeigehen würde“, zeigen die Worte von Mutter Rositta Oppenheimer (Ursula Ottmann), wie schwer die ganze Familie und mit ihr viele andere Juden verstehen konnten, was in der Zeit des Nationalsozialismus um sie herum passierte. Spätestens mit der Ankunft im französischen Lager Gurs, in das 1940 alle badischen Juden deportiert wurde, wird ihre Lage aber noch unmissverständlicher: „Ein mit Stacheldraht versehenes eisernes Tor“, sieht Leopold Oppenheimer (Anton Ottmann) bei der Ankunft, später werden die Toten auf Lastwagen davon gekarrt, anfangs noch in Särgen bestattet, bald nur noch in Gruben geworfen.
Leopold Oppenheimer stirbt 1943 im Konzentrationslager Majdanek, Hans Oppenheimer am 17. März 1945 nach einem Todesmarsch vom KZ Auschwitz im KZ Buchenwald.
Rositta Oppenheimer überlebt den Holocaust, kehrt 1946 nach Wiesloch zurück, lebt später in Heidelberg und wird 1966 für ihre Verdienste um die jüdisch-deutschen Beziehungen mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Max Oppenheimer kann nach vier Wochen im KZ Dachau dank Schweizer Verwandten nach England emigrieren, kehrt 1947 ebenfalls nach Deutschland zurück, macht sich einen Namen als Publizist, Historiker, Gewerkschafter und Politiker und stirbt 1994 in Wiesloch.
Die Geschichte dieser vier Menschen, „Deutsche mit jüdischem Glauben“, hat der Autor Anton Ottmann jetzt in seinem Buch „Oppenheimer. Briefe einer jüdischen Familie gegen das Vergessen“ (Verlag Lindemanns, 2024) akribisch erzählt. Dank dem großen Archiv von Max‘ Tochter Gaby Oppenheimer, in dem neben Tagebuchaufzeichnungen auch über 200 Briefe erhalten sind, die sich die Familienangehörigen nach ihrer Deportation geschrieben haben, und weiterer Quellen „konnte ich ihr Leben nachzeichnen“, sagt Ottmann bei der szenischen Lesung aus dem Buch in der Walldorfer Laurentiuskapelle. „Ich denke, das ist eine einmalige Sache.“ Der Applaus im voll besetzten Raum gibt ihm recht. Begleitet werden die vier Lesenden von Martin Ritz am Flügel, der immer wieder die passenden musikalischen Akzente zum schrecklichen Geschehen setzt. Auf einer Leinwand sind begleitend Fotos aus dem Leben der Oppenheimers zu sehen.
Am Anfang steht das normale Leben einer badischen Familie, ein krasser Kontrast zu den späteren Schrecken. „Ich war ein wilder Bub“, erinnert sich Leopold an seine Kindheit. „Mein Bruder und ich waren oft bei den Großeltern in Walldorf“, schildert Rositta, geborene Kramer, eine vergangene Idylle, in der sie „Beeren, Waldmeister und Maiblumen“ suchten und Tiere belauschten „in dem großen zauberhaften Wald, der den Ort und seine Felder und Wiesen wie eine Mauer umschloss“. Als die Familie nach Wiesloch zog, wo der Vater eine Tabakfabrik gegründet hatte, „war das für mich die schönste Zeit meines Lebens“. Auch Max‘ Erinnerungen klingen uneingeschränkt positiv: „Ich verbrachte eine wunderschöne Kindheit in Heidelberg“, er habe viele Freunde gehabt, „christliche und jüdische“. Hans sagt: „Wir unterschieden uns in nichts von unseren meist christlichen Schulkameraden.“ Das ändert sich ab 1936. „Was ist eigentlich ein Jud‘?“, fragt Max seine Eltern. Er wird aus dem Hockeyclub ausgeschlossen, von seinen Freunden geschnitten. „Wir konnten nicht glauben, was sich über unseren Köpfen zusammenbraute.“ Hans sagt: „Wir mussten hilflos zusehen, was über unsere Familie hereinbrach.“
Der Verlust der eigenen Tabakfabrik, die sogenannte Reichspogromnacht, der erzwungene Umzug von Wiesloch nach Heidelberg in eins der „Judenhäuser“, die Deportation nach Gurs – die Schrecken nehmen für die Oppenheimers kein Ende. Nur Max hat es geschafft, aus dem Land zu fliehen. „Wir waren nahezu mittellos, an eine Emigration in die USA war nicht zu denken“, sagt Rositta. Und doch keimt die Hoffnung immer wieder auf. „Es setzte sich sogar ein US-Abgeordneter für uns ein“, sagt Leopold, als man bereits im Lager Gurs lebt, „im Morast und Sumpf“, im täglichen Kampf gegen Hunger und Krankheiten, ohne Medikamente, ohne Betten für die Kranken. „Ich weinte Tag und Nacht“, sagt Rositta 1942. Vom Tod ihres Sohns Hans erfährt sie erst 1946.
Es ist eine eindrückliche Lesung, mit der Anton und Ursula Ottmann, Gert Weisskirchen und Friedrich E. Becht, begleitet von Martin Ritz, im Rahmen der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ wichtige Szenen aus dem Buch vorstellen. Es wird gefördert von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und ist seit Anfang März im Buchhandel erhältlich. „Wir gehen mit der Lesung in Schulklassen und Synagogen, waren schon in Stuttgart oder Mannheim“, erzählt Ottmann. Man tue das auch, um die Überlebenden der Familie, die in ihre Heimat und „das Land ihrer Mörder“ zurückgekehrt waren, in dem Willen zu bestärken, „dass sich so etwas in Deutschland nicht wiederholen darf“.
Info: Anton Ottmann: Oppenheimer. Briefe einer jüdischen Familie gegen das Vergessen, Verlag Lindemanns, 2024, 176 Seiten, 22,50 Euro, ISBN 978-3-96308-233-7.
Text und Fotos: Stadt Walldorf