Das Wesen der Dinge entfalten
Im Walldorfer Rathaus-Foyer sind zurzeit die Südtiroler Krippe und der große Weihnachtsbaum Seite an Seite und durchaus harmonisch mit ungewöhnlichen Kunstobjekten und großformatigen Zeichnungen des Künstlers Rainer Selg zu sehen.
„Rainer Selg ist sehr unkompliziert“, meinte Walldorfs Kunstbeauftragter Hartmuth Schweizer bei der Ausstellungseröffnung am 1. Dezember. Der Künstler habe Krippe und Weihnachtsbaum als Bestandteile der Ausstellung akzepiert. Auf die weihnachtlich anmutenden Farben der großen Soda-Siphon-Assemblage mit dem Titel „Partitur“ wies Schweizer gerne hin. Erster Beigeordneter Otto Steinmann, der die Ausstellung eröffnete, freute sich, dass Rainer Selg nach 2001 bereits zum zweiten Mal in der Reihe „Kunst im Rathaus“ zu Gast ist, nachdem er auch 2006 zu Zeiten der Fußball-Weltmeisterschaft bei der Ausstellung mit dem Titel „Körperformen“ mitgewirkt hatte. Er prophezeite Selg, dass auch diese Ausstellung unter einem guten Stern stehe. Dies schloss er aus dem nicht unbeträchtlichen Scherbenhaufen, den Rainer Selg bei den Aufbauarbeiten gemeinsam mit Hartmuth Schweizer verursachte, als eine Glasvitrine zu Bruch ging. Viele Gäste, darunter auch Weggefährten von Rainer Selg, waren zu der Vernissage gekommen, bei der Hartmuth Schweizer in seiner Einführung zunächst an Rainer Selg, den „jungen Wilden mit langen Haaren“ der 1970er und 1980er Jahre, erinnerte. Sehr früh habe der Absolvent der Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe mit seinen provokanten Arbeiten Aufsehen erregt und große Erfolge und Würdigungen in Nachbarschaft zu den größten Künstlernamen der damaligen Zeit erfahren, so Schweizer. Die Freiheit der Kunst habe Selg immer genutzt und dabei auch die Kunsttraditionen in Frage gestellt. Mit einer Säge habe er rohe Balken vom Sperrmüll und aus Abbruchhäusern bearbeitet. Vorgefundenes Material habe Rainer Selg immer schon inspiriert. Es aus seinem Funktionszusammenhang herauszunehmen, sein Wesen zu entfalten und Neues daraus zu schaffen – dieser Linie sei Rainer Selg bis heute konsequent treu geblieben. Der Künstler gebe der Alltagswelt, aus der seine Materialien stammen, damit einen ganz neuen Stellenwert. „Mit beispielloser Intensität und Konsequenz untersucht Rainer Selg seit seinen ersten provokanten Arbeiten die Fülle der aus unserer Verwertungsgesellschaft ausgeschiedenen Objekte“, so Hartmuth Schweizer. Seine „gewaltigen Sammlungen“ seien ein Reservoir der Ideen. So hat Rainer Selg über zwanzig Jahre lang auf Flohmärkten Soda-Siphons gesammelt und unter dem Namen „Partitur“ zu einer Assemblage vereint, deren Farbfolge er jeweils dem Zufall überlässt. Die Zusammenstellung dieser „objets trouvés“ verleihe den Soda-Siphons, die an die großen Bars der 1920er bis 1950er Jahre erinnern, eine übergeordnete Ästhetik, die viele Assoziationen zulasse. Für seine „Wackelkandidaten“, die auch „Bedenkenträger“ genannt werden dürfen, hat Rainer Selg zu gebrauchten Kartons von Ikea gegriffen. Für Selg gebe es, so Schweizer, keine Rangordnung der Materialien. Vielmehr erweise er jedem Material, seiner Funktion, seiner Geschichte Respekt und entfalte dessen Wesen „in einer adäquaten künstlerischen Lösung“. Zusammen mit rostigen Eisenteile ergebe sich für die Ikea-Kartons eine ironisch-poetische Form. Berühren ist hier übrigens absolut erwünscht. Aus einer abgerissenen Ziegelei hat Rainer Selg Schamottsteine gerettet, die er in einem großen Regal mit Formen aus neuen Materialien kombiniert hat. Es entstehen Dialog-Paare, die in Farbe, Form, Material und Oberfläche aufeinander bezogen sind. „Archeoskulpturen“ hat Selg diese getauft, da er in ihnen Modelle für monumentale Skulpturen sieht. Die Seele des ursprünglichen Objekts sei bei Selg immer noch enthalten, womit er auch denjenigen, die es ursprünglich herstellten, Reverenz erweise. Die weite Spannbreite von Rainer Selgs Schaffen zeigt sich auch in seinen Zeichnungen. „Aus Zeichnungen werden Zeichen“, erklärte Schweizer zu Selgs großformatigen farbintensiven Bildern, von denen einige auch in der ersten Etage des Rathauses zu sehen sind. Den Zeichnungen sprach Schweizer „skulpturale Qualität“ zu. Das „kleine Vereinzelte“ verwandle sich in das „große Allgemeine“. Hartmuth Schweizer verwies noch auf viele weitere Projekte Rainer Selgs, wie zum Beispiel seine Leidenschaft für Zeichnungen aus Gebrauchsanweisungen. Diese trennt er von ihrer eigentlichen Aufgabe als Erklärung eines Vorgangs, kopiert sie und verschickt sie massenweise per Post. Auch auf diese Weise erkundet Rainer Selg Beziehungen – wer weiß, wie die Adressaten auf diese Post reagieren?
Positiv war die Reaktion des Vernissage-Publikums nicht nur auf die ausgestellten Werke, sondern auch auf die Musik des klassischen Jazztrios „Jazzarias“.
Die Ausstellung ist noch bis 20. Januar während der Rathaus-Öffnungszeiten zu besichtigen.
Text: Stadt Walldorf
Fotos: Pfeifer