Der Wahnsinn ist Programm
Einen ganz außergewöhnlichen und inspirierenden Liederabend durfte das Publikum in der gut besuchten Laurentiuskapelle bei der dritten Veranstaltung der Konzerte der Stadt Walldorf erleben. Dem Musikbeauftragten Dr. Timo Jouko Herrmann war es gelungen, mit Alina Wunderlin (Sopran) und Ulrich Eisenlohr (Klavier) zwei hervorragende und bestens miteinander harmonierende Musiker nach Walldorf zu holen. Während Pianist Eisenlohr in Walldorf kein Unbekannter ist, trat die junge Sängerin zum ersten Mal in der Astorstadt auf. Herrmann zeigte sich in seiner Begrüßung erfreut, dieses wunderbare Duo mit seinem vielgestaltigen und bunten Programm zu Gast zu haben.
Unter dem Motto „Ophelias Traum“ war der Abend der mysteriösen weiblichen Hauptfigur aus Shakespeares „Hamlet“ gewidmet. Die Verstrickung der gutgläubigen und naiven Ophelia in die von Intrigen, Machtspielen, Täuschungen und Verrat geprägte Handlung gipfelt in Verzweiflung, Wahnsinn und Tod. Verschiedene Komponisten von Richard Strauss über Camille Saint-Saëns bis hin zu Wolfgang Rihm hat dieses Drama inspiriert. Sie haben die Shakespeare-Texte, entweder im englischen Original oder in der deutschen oder französischen Übersetzung, vertont. Daneben erklangen auch Werke anderer Komponisten, die sich mit der Ophelia-Thematik beschäftigt oder sich in anderer Form in den Grenzbereich zwischen Realität, Traum und Wahnsinn gewagt hatten. Dankenswerterweise gab es zum Programmheft auch die Liedtexte mit Übersetzungen.
Den Auftakt machten zwei moderne Lieder englischer Komponisten. Während William Waltons „Daphne“ von einem Jüngling handelt, der die in einen Lorbeerbaum verwandelte Daphne sucht, vertonte Peter Warlock mit „Sigh no more, Ladies“ ein Gedicht Shakespeares. Alina Wunderlin sang sich sogleich mit ihrer angenehm klaren, agilen und weichen Stimme in die Herzen der Zuhörer. Kongenial und einfühlsam begleitete Eisenlohr am Flügel. In „Daphne“ ließ er die Töne nur so glitzern und funkeln. Man glaubte, am Ufer eines plätschernden Baches zu sitzen, und ganz in der Nähe musste die verwandelte Daphne, Tochter des Flussgottes Peneios, stehen. Schwungvoll und frisch erklang „Sigh no more, Ladies“, in dem die Frauen vor der betrügerischen Natur der Männer gewarnt werden. Traurigkeit und Sorgen sollten sie sein lassen und stattdessen in ein heiteres Trällern einstimmen.
Dramatisch wurde es in den „Drei Liedern der Ophelia“ von Richard Strauss. Er vertonte sie 1918 nach den Übersetzungen von Karl Simrock aus Shakespeares „Hamlet“. Ungewöhnliche und höchst chromatische Harmonien reizen hier jeden Sinn für Tonalität bis zum Äußersten aus. Der Wahnsinn der unglückseligen Ophelia, die den Vater verloren hat und von Hamlet zurückgewiesen wird, wurde eindrucksvoll musikalisch gestaltet. Wunderlin ging völlig in ihrer Rolle auf. Eine ausdrucksstarke Gestik und Mimik vervollständigten ihren Vortrag. Die junge Koloratursopranistin verfügt nicht nur über eine betörende Stimme, die auch in den höchsten Höhen nie schrill klingt, sondern immer weich und flexibel bleibt, sondern auch über eine bemerkenswerte Bühnenpräsenz und eine große Portion Humor sowie ein ausgesprochen komödiantisches Talent. Immer wieder blitzte der Schalk aus ihren Augen.
Zwischen den Strauss-Liedern erklang thematisch passend Robert Schumanns „Bräutigam und Birke“. Dazu schritt Wunderlin singend durch die Zuschauerreihen bis hinauf auf die Empore. Das „verrückte Programm“, wie Eisenlohr es bezeichnete, war bis ins kleinste Detail sorgsam durchdacht und absolut stimmig. Beide Künstler versorgten das Publikum auch immer wieder auf humorvolle Weise mit interessanten Informationen über die vorgestellten Werke. Zwei Lieder von Henry Purcell in einer modernen Bearbeitung für Klavier von Benjamin Britten thematisierten das Thema Liebe an der Grenze des Wahnsinns und umrahmten Schumanns „Lied des Florio“ und „Lied der Delphine“. Beide haben das gleiche musikalische Grundmuster und gehören zusammen. „Florio“ laufe quasi in Zeitlupe, „Delphine“ dagegen im Zeitraffer, erklärte Eisenlohr.
Ausdrucksstark erklang Francis Poulencs „Il vole“. Eisenlohrs Finger flogen in atemberaubender Geschwindigkeit über die gesamte Tastatur. Die Töne sprudelten und perlten nur so. Eine weitere Shakespeare-Vertonung gab es mit Wolfgang Rihms „Ophelia sings“ von 2012. Die drei extravaganten und komplizierten Gesänge mit ihrer genau auf dem Text abgestimmten Musik sowie gesprochenen und theatralischen Elementen stellen eine große Herausforderung dar, der die beiden Künstler mit offensichtlichem Spaß und großer Leidenschaft gerecht wurden. Eine unglaubliche Dichte und höchste Dramatik entstand durch diesen unmittelbaren Bezug von Wort und Musik. Eisenlohr erwies sich nicht nur als versierter Pianist, sondern auch als ausdrucksstarker Sprecher. Wunderlin gestaltete ihren gesanglichen Part einfach sensationell. Sie verstand es, sowohl eine gewisse Zerbrechlichkeit als auch eine große Kraft mit einem enormen Ausdrucksdrang zu vereinen. Klirrende Dissonanzen, melodiöse Passagen, spitze Schreie, Tremoli, atemberaubend lange Töne, Sprechgesang und abgerissene Sprachfetzen wechselten sich ab. Dazu gab es hämmernde, harte Klavierakkorde ebenso wie melodiöse, liebliche Passagen. Mit begeistertem Beifall und Bravo-Rufen reagierte das Publikum auf diese grandiose Interpretation.
Zur Beruhigung erklang anschließend Hugo Wolfs „Wie glänzt der Mond so kalt und fern“. Ein weiteres modernes Werk gab es mit Ernst Kreneks „Monolog der Stella“, das ebenfalls großen Anklang beim Publikum fand. Von Mario Castelnuovo-Tedesco bekam das Publikum eine südländisch geprägte Ophelia zu hören. Saint-Saëns‘ „La mort d‘Ophelie“ mit seinen sprudelnden, perlenden und melancholischen Klavierklängen und seiner anrührenden Melodie setzte einen trefflichen Schlusspunkt unter diesen wunderbaren Liederabend. Das beglückte Publikum bedankte sich mit großem Applaus bei den beiden herausragenden Interpreten. Nach den aufwühlenden Gefühlen und der „wahnsinnigen“ Dramatik gab es das anrührende und versöhnliche „Weep you no more“ von Roger Quilter als Zugabe mit auf den Nachhauseweg.
Text: Carmen Diemer-Stachel
Foto: Stadt Walldorf