Einfühlsame und beseelte „Winterreise“ … mit Sebastian Hübner und Kristian Nyquist Einen solchen Besucherandrang konnte die restlos ausverkaufte Laurentiuskapelle nicht fassen und so mussten einige Musikliebhaber leider unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen.
Auf dem Programm des zweiten Konzerts der Stadt Walldorf in diesem Jahr stand Franz Schuberts „Winterreise“ op. 89. Der Musikbeauftragte der Stadt, Prof. Gerald Kegelmann, hatte mit Sebastian Hübner (Tenor) und Kristian Nyquist (Hammerflügel) zwei herausragende Künstler gewinnen können. Die „Winterreise“ wurde von nahezu allen bedeutenden Liedsängern interpretiert und gilt zusammen mit Schuberts Zyklus „Die schöne Müllerin“ als Höhepunkt der Gattung Liederzyklus und des Kunstliedes. Jede Aufführung stellt sowohl technisch als auch interpretatorisch eine große Herausforderung für den Sänger und seinen Begleiter dar. Die Wiedergabe des Duos Hübner und Nyquist unterscheidet sich von den meisten Interpretationen. Nyquist spielte nicht auf einem Klavier, sondern auf einem Hammerflügel, dem Nachbau eines historischen Instrumentes von 1814 aus der Werkstatt von Michael Walker. Das 2002 angefertigte Instrument zeichnet sich durch seinen feinen, leisen und obertonreichen Klang und seine ganz spezielle Farbgebung aus. Das Publikum durfte sich über Klänge freuen, wie sie zu Schuberts Lebzeiten zu hören waren. Schuberts Liederzyklus entstand 1827, ein Jahr vor seinem Tod. Er besteht aus 24 zumeist tieftraurigen Liedern für Singstimme und Klavier. Als Textvorlage dienten die drei Jahre zuvor unter dem Titel „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines wandernden Waldhornisten“ veröffentlichten Verse von Wilhelm Müller. Der jugendliche Protagonist ist der Romantiker schlechthin, ein unverstandener Fremdling immer auf der Suche, auf Wanderschaft, der sich nach Geborgenheit und Ruhe sehnt. Die tiefgründige Dunkelheit und Verzweiflung der Poesie Müllers entsprach völlig Schuberts Wesen. Als Müller seine Texte verfasste, hoffte er, dass sich eine gleichgesinnte Seele fände, die sie vertonen würde. Dass sich mit Schubert diese „kongeniale Seele“ fand, erfuhr der junge Dichter im fernen Dessau nicht mehr. Er starb just zur gleichen Zeit, als Schubert seine Komposition beendete. Einsam und ruhelos zieht ein von der Liebe enttäuschter, todunglücklicher junger Mann durch eine kalte und lebensbedrohliche Winterlandschaft. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, die Welt ist ihm so trübe, der Weg ist „in Schnee gehüllt“. Resigniert verabschiedet er sich in Gedanken von seiner Liebsten und seinen unerfüllten Hoffnungen. Hübner und Nyquist verstanden es, von den ersten Takten an das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Immer tiefer hinein in diese todesdüstere und pessimistische Seelenwelt des Lyrischen Ichs führte die musikalische Reise. Wie gebannt hingen die Zuhörer an Hübners Lippen und ließen sich von seiner angenehmen und warmen Stimme betören und ergreifen. Hübner erspürte die Inhalte der Lieder regelrecht, es entstand ein Sog, dem man nicht widerstehen konnte. Wunderbar harmonierten Hammerklavier und Gesang. Mit großem Einfühlungsvermögen wurde jede noch so kleine Nuance bewusst gestaltet. Feinfühlige Agogik, klangliche Ausgewogenheit, differenzierte Dynamik und hervorragende Textverständlichkeit überzeugten. Schubert befreite das Klavier von der Funktion der reinen Begleitung und machte es ebenfalls zum Träger der Botschaft. Nyquist meisterte diesen höchst anspruchsvollen Part souverän und einfühlsam. Er interpretierte seinen Klavierpart nicht weniger gesanglich, als sein Kollege. Eine breite Palette an Klangfarben wusste er seinem Instrument zu entlocken. Die meisten Lieder sind in Moll gehalten. Einige erklingen jedoch in Dur, wie „Der Lindenbaum“ oder „Frühlingstraum“. Neben der Atmosphäre von Eiseskälte und Einsamkeit wirken diese träumerischen Momente bei Hübner und Nyquist ganz besonders durch ihre Schlichtheit und Einfühlsamkeit. Hübner wurde nie wirklich laut. Die leisen, aber sehr eindrücklichen Töne bei stets klarer Artikulation standen im Vordergrund. Selten kam es zu dramatischen Ausbrüchen und so entstanden immer wieder kleine interpretatorische Perlen. Hübner sang beseelt, schlank, nahezu ohne Pathos und niemals gekünstelt. Seine Interpretationen gehen unter die Haut. Zum bitteren Hymnus wird „Die Krähe“. Der Vogel verfolgt den Protagonisten wie ein Totengeier, treu bis zum Grabe. Die Krähe erscheint gleichzeitig als eine Art Freund sowie als Symbol des Todes. Eine starke Todessehnsucht kommt auch im Lied „Der Wegweiser“ zum Ausdruck. Keinem Menschen will der ruhelose Wanderer begegnen, es treibt ihn in die „Wüstenei“. Fahl und verloren ließ Hübner die Reflexionen des Protagonisten erklingen. Die letzten fünf Lieder sind sehr reduziert gehalten. Diese Kargheit kulminiert im Schlusslied „Der Leiermann“. Monoton sind Dynamik und Ausdruck, alles klingt hohl und leer. Dur und Moll lösen sich in den Quinten auf, wie sich im Angesicht des Todes alles aufhebt. Der Leiermann, der „wunderliche Alte“, der barfuß auf dem Eise seine Leier dreht, ist der Tod. Der Wanderer überlegt, ob er mit ihm gehen soll. Wie er sich entscheidet, erfahren die Hörer jedoch nicht. Hübner ließ den Sprechgesang geradezu verhauchen und in Ödnis verhallen. Tief ergriffen verharrte das Publikum zunächst in andächtigem Schweigen, bis es sich schließlich mit stürmischem und lang anhaltendem Applaus für diese herausragende musikalische Darbietung bedankte. Quelle: Stadt Walldorf, (Foto: Pfeifer)