Flaschenpost mit Nashorn in der Künstlerwohnung gefunden
Ich bin seit ein paar Tagen krank und verstehe mich dann nicht gut mit der Welt. Tatsächlich gibt es nichts, was mich mehr ärgert, als krank zu sein. Vor allem weil die Schuld daran allein bei mir liegt, gönne ich meinem geschundenen Körper auf meiner beständigen Wanderung durch die Welt und die Buchstaben und im Kontakt mit Menschen doch nur selten eine Pause und tunke ihn daneben gelegentlich auch noch in die eisigen Meere Ostfrieslands und Islands.
Mein Freund Marcus, Fotograf in Paris und eigentlich ähnlich selbstzerstörerisch arbeitsam, unterwegs und gesellig (auf die Art, wie das im Arbeitszeugnis gemeint ist) wie ich und beim Eisbaden auch gerne mit von der Partie, droht mir oft damit, mich irgendwo anzubinden – und er meint das mindestens zur Hälfte auch als Selbstschutz und nicht nur als erotisches Spiel.
Es ist sehr ärgerlich, dass sich niemand um mich kümmert und mir Tee macht. Mein Mann arbeitet auf Island, meine Freunde sind in der ganzen Welt verteilt. Die zum Schreiben förderliche Einsamkeit in Walldorf entpuppt sich als Hölle, weil ich niemanden mit meinem weinerlichen Gejammere nerven kann – meine einzige Freude, wenn ich krank bin. Den Lieferanten, der mir einen Liter Miso-Suppe bringt, möchte ich fast küssen, aber er schaut mich ganz angewidert an. Krank bin ich. Zwei Tage und Nächte im Fieber haben ihre Spuren an mir hinterlassen.
Die Krankheit ergibt Sinn
In einem halbwachen Delirium zwischen zwei verstörenden Fieberträumen tapse ich durch meine Künstlerwohnung und ziehe die oberste Schublade des Schränkchens im Flur auf, um darin etwas zu finden, das mir mein unliebsames Kranksein ein bisschen erträglicher macht. Da raschelt etwas, ein Blatt Papier löst sich unter der Schublade und hängt herunter. Gemeinsam hängen wir kurz völlig leblos im Flur und wissen nichts mit der Situation anzufangen, dann löse ich den zweiten Streifen Tesafilm unter der Schublade, befreie das Papier und halte ein handbeschriebenes Blatt in der Hand.
Einer meiner künstlerischen Vor-Bewohner muss mir diese Nachricht, diese Flaschenpost, versteckt unter der Schublade, geschrieben haben. Er musste geahnt haben, dass sich seine geheime Post lösen würde, sobald ein kranker Mensch auf der verzweifelten Suche nach Linderung die Schublade mit den Medikamenten mehrmals täglich auf- und zuziehen würde. Plötzlich ergibt meine Krankheit Sinn.
Ich beginne zu lesen: „Aus der Reihe Revolutionäre Lebensläufe. Heute: 28. Dezember 1936; Salvadore Dali bleibt bei einem Ausritt auf seinem Rhinozeros an einem Stein hängen.“ Schwindelig greife ich in die Schublade und halte mehrere Blister mit Schmerzmitteln und Stimmungsaufhellern und ein paar thailändische Kräutertinkturen in der Hand. Habe ich schon zu viel davon genommen? Soll man doch auf Nilpferden reiten, wo sie doch sicher nicht grundlos Pferde hießen! Als mir klar wird, dass ich immer noch barfuß im Flur stehe, nicht weiß, welcher Tag heute ist, und kurz ein Nashorn mit einem Nilpferd verwechselt habe, schlurfe ich kraftlos zurück ins Bett. Dalis Unfall nehme ich mit.
„Wenig bis gar nichts bringt Salvadore zu Stande, hat er seinen Körper noch nicht ins Meer geschmissen. Das sind verlorene Tage, an denen er über Gebühr an sich und anderen herumzupft. Die Welt soll sich seinem Willen unterwerfen, und der meerlose Salvadore hat einen zerstörerischen Willen. Nichts an ihm selbst und der Welt kann da genügen. Ein schrecklich wütender Mensch ist das. Es ist kurz nach 10 Uhr morgens: Noch ist die Wut zivilisiert und als Verachtung getarnt. Salvadore liegt auf dem Kanapee, die Arme verschränkt. Etwas links von ihm ein Fenster, in dem er liegend den Himmel erkennen kann. Rechts von ihm, hinter einem dekorativen Gatter und halbverdeckt von exotisch anmutenden Pflanzen, erkennt man ein schlafendes Rhinozeros.“
Da ist jemand, noch dazu auch ein berühmter Künstler, genauso schlecht auf den Rest der Welt zu sprechen wie ich. Berufskrankheit. Da hilft nur das Meer, ich nicke. Ebenso nutzlos und grantig auf meinem Künstlerwohnungsbett liegend solidarisiere ich mich mit dem verächtlichen Menschen auf dem Kanapee. Man bringe mir mein Nashorn für meinen Ausritt!
Wer schreibt solche Briefe?
Ich lese weiter: „Ein befreundeter Dichter hatte ihm ein Manuskript mit kurzer Notiz zugesendet: Bester S., hier nun das von mir versprochene Gedicht. Noch niemand wohnt darin. Das hast Du nun zu verantworten. Ein erstes Lesen mag reichen, damit auch der erste Bewohner einzieht. Auch magst Du es mit jedem teilen, der dir einfällt. Aber so recht frei um die Brust würde mir nur, wenn Du diese Landschaft malen würdest.“
Wer schreibt denn solche Briefe? Wer hat denn überhaupt diesen ganzen Quatsch verzapft?, frage ich mich und betrachte den merkwürdigen Brief über einen noch merkwürdigeren Brief in meiner Hand. Da erlaubt sich doch jemand einen Scherz mit mir. Hoffentlich wird der noch lustiger und hoffentlich kommt dieses Gedicht nicht weiter vor. Ein Gedicht, das zum Gemalt-werden gemacht ist, sollte auf jeden Fall nicht gelesen werden!
„Auf der Galerie über Salvadore schüttelt sich ein Papagei und eine Wolke Federn macht sich auf den Weg nach unten. Dali liest den Brief und bleibt verschont. Ein laues Lüftchen vom Fenster her – ffffuuu – und das Rhinozeros hat den Flausch auf der Nase. Das Rhinozeros ist nicht zivilisiert. Seine Wut, ganz ungetarnt, rummst mit dem Zucken einer Schulter Pflanzen und Gatter zu Staub. Nur wenige Meter geht es in Richtung des Betrachters, und doch ist die Zerstörung grandios.“
Mit diesem Stinkstiefel von Nashorn solidarisiere ich mich gleich noch mehr. Hoffentlich fällt ihm dieses fürchterliche Gedicht in die Hände!
Sekunden bis zur Explosion
„Das Rhinozeros steht mit wildem Atem. Die erste Wut ging in die Botanik, zwei, drei Sekunden noch bis zur nächsten Explosion. Salvadore blickt über den Rand des Briefes direkt in sein Auge. Kein Schrecken, keine Furcht, nur eine Chance. S. springt aufs Kanapee, dann ein weiter Satz, unwahrscheinlich weit und hoch, unmenschlich, auf den Nacken des Rhinozeros: Ans Meer!, schreit S. und der Koloss tritt durch die Wand, als wäre sie ein zu straff gespanntes Tuch.“
Der einzige Mensch, den ich kenne, der solchen Blödsinn schreibt, ist Marcus. Ich erinnere den Schmerz in meinem Ohr aufgrund des markerschütternden Schreis eines durchgedrehten Delfins in einem seiner Hörbücher. Was sagt das über einen, wenn man nur über Tiere schreibt, die ausrasten? Und wie hat er die Flaschenpost in meine Wohnung bekommen? Kurz verdächtige ich meinen Mann der Komplizenschaft, aber es ist alles selbst für mich Fieberträumende zu unwahrscheinlich.
Ich lese weiter: „Draußen weht die Brise, etwas Sonne, etwas Salz, viel Grün und weites Blau. Im Galopp blähen sich die Nüstern der Tiere. Salvadores Blick nähert sich der Wildheit des Rhinozeros an. Ihm entfährt ein Schrei, halb Leid, halb sadistische Freude. Im Galopp geht es durch Gestrüpp, von dem S. sich einen Ast entlehnt und ihn zur Peitsche werden lässt. Schneller, rasender, dort, Meer.“
Es ist komisch, dass Hektik und Geschwindigkeit sich nicht auf mich übertragen wollen. Mir geht das beim Lesen ja öfter so, dass ich es in meinem Bett viel zu gemütlich habe, um von der Schnelligkeit einer Handlung überhaupt beeinträchtigt zu sein. Heute kommt die Trägheit meiner Gedanken in meinem von Rotz verstopften Kopf noch dazu. Wenn ich an die Universität zurückkehre, dann werde ich eine Studie ins Leben rufen, deren Versuchsanordnung beweisen soll, dass Menschen umso langsamer lesen, je schneller das Geschehen im Buch vor sich geht. Der Gedanke befriedigt mich, ich kuschle mich in meine Decken und lese weiter, wir erreichen schließlich den Höhepunkt:
„Nun zum Malheur: Wie hingekrümelt sind da die Reste einer antiken Villa. Ohne Rücksicht sollen diese alten Steine zerstoben werden. Was hat der Panzer des Tieres nicht schon alles durchlebt? Mit der Wucht dessen, der Recht hat, geht es in schwungvoller Linie gegen die Reste der Behausung. Mit dem linken Vorderlauf bleibt das Rhinozeros nun – einfach so – in einem dieser Krümel hängen. Ein Nichts, ein Loch bringt die beiden Tiere zu Fall. Wie ausgeschnitten und auf den Schritt des Wahnsinnigen hin vermessen. Als Falle ausgelegt!, denkt Salvadore noch. Überhaupt ist der Sturz ein dermaßen langer Vorgang, dass er gar nicht mehr ins Bild passt.“
Da bleibt also fast die Zeit stehen. Ich weiß, wo das ist, schreit es plötzlich in meinem Kopf, während ich schon aus dem Bett springe und in meine Hausschuhe schlüpfe. Die Flaschenpost in der Hand, deren Sinn sich mir auf einmal entschlüsselt hat, renne ich im Schlafanzug die Treppen hinunter und über die vielen Zebrastreifen der Drehscheibe.
Das Bild eines Unfalls
Schon aus der Puste und mit Schmerzen am ganzen kranken Körper laufe ich die Hauptstraße entlang, weiche irritierten Blicken aus und hüpfe die unebenen kleinen Stufen zur Alten Apotheke hinauf. In der Korrespondenz-Ausstellung biege ich nach rechts ab, drehe mich nach links und stehe vor dem Bild, diesem leeren Bild eines Unfalls, der schon weitergeritten ist. Als hätte jemand ein Gedicht gemalt. Und erst hier, mit dem Schauplatz des Dramas vor meiner Nase, lese ich den letzten kleinen Absatz:
„Unvollendet hinter den beiden Stelen fliegt noch immer ein Rhinozeros mit Salvadore Dali zwischen den breiten Schultern durch die Luft. In ewiger Freundschaft begehren sie weiter – zwar nicht einander – aber!“
Text und Foto: Sanna Konda/Stadt Walldorf