Reichlich unreflektiert von Behörden, Öffentlichkeit und Politik entwickelt sich die Zahl der Corona-Infizierten in Wiesloch – und zwar rasant nach oben. Das veranlasst mich, nach langer Zeit mit diesem Thema wieder an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich schildere Zahlen und Fakten, berufliche Erfahrungen und wissenschaftliche Hintergründe. Meine Hauptbotschaft lautet: Jeder muss seine privaten Kontakte um 70% reduzieren – und zwar jetzt!
Dass es – wie erwartet – eine zweite Welle gibt, ist inzwischen jedem klar. Sie kommt früher als erwartet und sie verläuft rasanter als erwartet. Nachdem anfangs überwiegend Jüngere mit leichteren Verläufen erkrankt sind, steigen nun auch wieder die schweren Fälle bei Älteren und damit die Belastung der Krankenhäuser. Wie sieht es bei uns in Wiesloch aus?
Waren im Frühjahr maximal 20 Personen gleichzeitig an COVID-19 erkrankt, so sind es jetzt viel mehr, aktuell 54. Das ist immer noch eine überschaubare Zahl und man muss sich nicht ängstigen, aber sie darf in diesem Tempo nicht weiter steigen. Denn vor 2 Wochen waren es noch 9 Fälle, letzte Woche 40 und nun 54. Nur um ein Gefühl zu bekommen, stellen wir uns vor, Wiesloch hätte 100.000 Einwohner. Dann läge die Inzidenz bei 200 Fällen. Bis vor 2 Wochen wäre die Ampel bei 50/100.000 auf Rot gesprungen. Wir sind also in einem Bereich, in dem das Ganze auch entgleiten könnte. Damit das nicht passiert, muss jeder seine persönlichen Kontakte um mindestens 70% reduzieren.
Auch bei mir in der Praxis sehe ich nun die ersten Fälle und mache jede Menge Abstriche bei verdächtig Erkrankten oder im Kontaktfall. Im Frühjahr hatten wir nicht ein positives Kind, jetzt dagegen zunehmend. Was beobachte ich?
Die Erkrankung verläuft noch nicht diffus, sondern es erkranken Cluster (Familien, Mannschaften, Freundeskreise), eben dort, wo es eng zugeht und relativ viele Menschen zusammenkommen. Aus dem ersten Wieslocher Cluster in einer VfB-Mannschaft im September, als die Welt die Entwicklung noch recht entspannt betrachtete, resultierten 6 infizierte Spieler und mehr als 20 Erkrankte in den Familien der Spieler. Damals war das Gesundheitsamt sehr flott und die Nachverfolgung der Kontakte erfolgte zügig. Entsprechend schnell hatte man die Situation auch unter Kontrolle. Das ist zwischenzeitlich leider nicht mehr so.
Kinder werden bislang über die Erwachsenenwelt infiziert. Wird eine Ansteckung in eine Schulklasse oder eine Kindergartengruppe eingetragen, so pflanzt sie sich dort nur geringfügig fort. Wir gehen nur von einer Ansteckungsrate von 10-15% aus. Dank der Hygienekonzepte und der Tatsache, dass es Eltern gibt, sind diese Infektionsherde oft schnell wieder beseitigt. So sind erste Gruppenschließungen in einem Kindergarten in Baiertal erfolgreich beendet. Schul- oder Klassenschließungen kenne ich bislang nur aus den Umlandgemeinden.
Ansteckungen zwischen Kindern beobachte ich bislang nur unter Geschwistern also innerhalb von Familien. Die positiven Kinder haben in der Mehrzahl keinerlei Symptome und sind überhaupt nicht krank. Das ist einerseits erfreulich andererseits aber auch trügerisch. Denn sie sind sehr wohl ansteckend. Schwere Verläufe bei Kindern sind dagegen nicht bekannt.
Dafür gibt es im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter schwere und langanhaltende Verläufe. Eine Woche Krankenhaus mit Sauerstoffpflichtigkeit ist auch für einen 50-jährigen kein Pappenstiel. Ich selbst kenne inzwischen eine Handvoll Patienteneltern, denen es nach überstandener Erkrankung nach Wochen immer noch nicht gut geht. Der Geschmackssinn kommt lange nicht zurück, der Husten hört nicht auf, man leidet unter anhaltend geringer Belastbarkeit. Die wochenlange Isolation nimmt einem dazu psychisch mit. Diese Erkrankung sollte man sich also in jedem Alter einfach ersparen! COVID-19 ist nicht mit einer Grippe oder einem grippalen Infekt zu vergleichen.
Die Teststrategie hat sich geändert. Die Reagenzien sind knapp, Labore grenzwertig belastet, manche Gesundheitsämter schon überlastet, die Hotline ist vielleicht nicht immer zu erreichen. Eigenverantwortung für sich selbst und andere wird immer wichtiger. Eine zentrale Rolle spielen dabei nun die niedergelassenen Ärzte. Die Diagnostik verlagert sich zunehmend auf die Praxen. Das MVZ bei uns im Haus testet Erwachsene, wir testen Kinder und Jugendliche. Daneben gibt es natürlich die Teststation des Gesundheitsamtes in Reilingen. Es wird nicht mehr jeder getestet, der es wünscht. Es muss individuell beurteilt werden, ob und wann ein Abstrich sinnvoll ist. Also anrufen, besprechen, planen, Ball flach halten.
Ein Blick auf den angekündigten Impfstoff. In den 30 Jahren meiner Kinderärztlichen Tätigkeit habe ich die Einführung von 5 neuen Impfstoffen/Impfungen miterlebt. Der jetzt angekündigte Impfstoff verspricht viel, ist aber auch vor allem logistisch sehr anspruchsvoll. 2 Impfungen im Abstand von 3 Wochen könnten einen 90%en Schutz ergeben. Das wäre sehr gut, allerdings müssen dafür die Abstände eingehalten und der Impfstoff in einer Kühlkette von -70 Grad aufbewahrt und transportiert werden. Das kann kein Krankenhaus und keine Arztpraxis derzeit sicherstellen. Das muss anders organisiert werden. Impfzentren, wie sie der großen Politik momentan vorschweben, können aber nicht von der Bundeswehr oder Medizinstudenten alleine betrieben werden, dazu braucht es Fachpersonal mit Erfahrung. Ich selbst könnte mir durchaus vorstellen, mal einen Monat mit der Praxis auszusetzen und nur zu impfen. Dazu müsste es aber geeignete Strukturen in der Nähe geben. Ich werde in einer der nächsten Gemeinderatssitzungen anfragen, ob die Stadt Wiesloch irgendwelche Vorkehrungen trifft, um im ersten Quartal 2021 mit der Impfung von 50.000 Bürger*innen aus dem Mittelbereich beginnen zu können.
Man kann die Maßnahmen des Wellenbrecher Shutdowns kritisieren. Sie sind nicht immer logisch oder gerecht, aber man kann sie nicht ablehnen. Es werden angesichts der Tatsache, dass 70 % der Erkrankungsfälle nicht zurückzuverfolgen sind, alle zumutbaren Register gezogen. Die Alternative wäre, die Arbeitswelt massiv einzuschränken, Kindergärten und Schulen zu schließen oder Ausgangsbeschränkungen zu verhängen. Das wäre gesellschaftlich und für die persönlichen Freiheitsrechte der größere Eingriff. Ich persönlich bedauere sehr, dass sich die Corona App nicht flächendeckend durchsetzt. Sie wäre ein effektives und niemanden einschränkendes Instrument, wenn mindestens 60% sie nützen würden. Die derzeitigen Download-Zahlen liegen aber nur bei 26%.
Ob die jetzt ergriffenen Maßnahmen ausreichend sind, zeigt sich nicht vor Ende nächster Woche. Der öffentliche Raum ist reguliert. Es kommt maßgeblich darauf an, ob die Kontaktbeschränkungen im privaten Umfeld umgesetzt werden oder nicht. Also keine Partys, Familienfeste, Treffen im Freundeskreis… sonst droht Übleres. Ziel muss es sein, 70% seiner Kontakte zu reduzieren – und zwar jetzt.
Es ist ernst.
Dr. med. Gerhard Veits, 13.11.2020