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Aus dem Walldorfer Tagebuch von Gastkünstlerin Sanna Konda (Teil 10)

7. Dezember 2024 | > Walldorf, Allgemeines, Das Neueste, Kultur & Musik

 

Buntspechte rufen in meine Träume 

In unseren Träumen, da sind wir barfuß unterwegs und auch sonst nach Möglichkeit. In meinen Träumen, und über meine Träume spreche ich am liebsten mit Agnes, aber auch in allen Zuständen zwischen Schlafen und Wachen ist sie sehr präsent. Wenn ich kurz nach dem Einschlafen vom Schnarchen meines Mannes wach werde und auf meinen zweiten Schlafplatz im Wohnzimmer wechsle, dann mache ich Agnes in diesem tranceartigen Halbschlafzustand manchmal eine Sprachnachricht, für die sich tagsüber nicht die Zeit hat finden lassen. Die Nachrichten der Nacht sprechen mit traumwandlerischer Sicherheit von Dingen, die in den Nachrichten des Tages kaum zu artikulieren sind. Wenn ich mir diese nächtlichen Nachrichten anhöre, bin ich mir selbst ein bisschen fremd. Die Sanna des Tages spricht schnell und sprunghaft und weiß manchmal nicht, was sie sagt. Die Sanna der Nacht spricht leise und sanft, sie spinnt ihre Gedanken zu langen Ketten und Kreisen. Beide sprechen ungehemmt von sich selbst, beide lachen viel. 

Wenn die Sanna des Tages der nächtlichen zuhört, dann können zwei Dinge passieren: Entweder verwandelt sich die wache Sanna mit jeder Schleife der Gedanken, mit jedem staunend geteilten Traum mehr in die der Nacht und wird ganz ruhig; selbst inmitten eines überfüllten und verspäteten Zuges und auf dem Weg zu einem schon fast verpassten, wichtigen Termin wird sie dann ganz leicht und die Landschaft, die der Zug durchfährt, offenbart wunderbare kleine Details. Oder aber die zwei Sannas finden nicht zueinander und die Differenz bleibt wie ein Spalt bestehen, aber auch das zeigt sich letztlich weniger als schizophrener denn als harmonischer Zustand: Das Anders-Sein der nächtlichen Stimme, ihre befremdliche Weisheit und ihr melodischer Klang erfüllen den Tag-Mensch mit solcher Zärtlichkeit für den Nacht-Menschen, dass sie eine Brücke baut über den Spalt, ohne die Differenz aufzulösen. (Diese Brücke ist übrigens auch der Weg, den mein Schreiben beständig zurücklegt, wenn es glückt.) 

Agnes schneidet die Sprachnachrichten der letzten zwei Jahre, die manchmal nicht wissen, ob sie Monolog oder Dialog sind, und kuratiert ein Audio-Tagebuch. Da sprechen wir durcheinander, sie und ich, die Tag- und die Nacht-Sanna und auch unterschiedliche Agnes-Wesen. Manchmal sind die Stimmen schwer zuzuordnen. Die sanfte Sanna und die traurige Agnes klingen viel ähnlicher als die aufgekratzte und die müde Sanna sich selbst. In der Vermischung der Stimmen vermischt sich, und das ist ein verblüffend wahres Abbild unserer Gespräche, auch unser Denken und Fühlen. 

Agnes besucht mich in Salzburg und in einem großen, weichen Hotelbett schlafen wir mit all unseren geteilten Träumen zum ersten Mal nebeneinander. Agnes klingt im Schlaf wie meine Nichte, die fast noch ein Baby ist, kaum hörbare kleine Schmatzer und tiefes Ausatmen, das glücklich alles loslässt, aber im Gegensatz zum Kind ruht sie ganz still und bewegungslos auf dem Rücken wie eine aufgebahrte Leiche. Unsere schlafenden Körper liegen in dem wolkengleichen Bett, nur die Träume berühren sich wie immer. 

Mein Handy-Wecker klingelt und ich kugel mich wie von der Tarantel gestochen zum Fußende des Bettes, um diesem dort lagernden Erzfeind den Garaus zu machen. Agnes neben mir lacht sich kaputt. Dass ich, die morgenmuffelige Eule, bekanntermaßen in der Früh kaum ansprechbar und noch weniger genießbar, mit einer Ninja-Rolle in den Tag starte, hatte sie am wenigsten erwartet. Sie erzählt mir ihren Traum, wir kämpfen uns widerwillig aus dem Bett und zum Frühstück. Agnes kann so unerwartet viel essen, dass ich an meine Oma denken muss, die gerne sagt, gute Esser sind gute Menschen. Mit vollen Bäuchen und gehörig Koffein im Blut kehren wir zurück ins Bett und konzipieren, halb liegend, halb sitzend, an meiner Vorlesung über jüdische Mystik herum. Trotzdem oder gerade deswegen fühlt es sich an, als hielten wir die Nacht immer noch in unseren Händen. 

Am Abend fällt mir auf dem Weg zum Buntspecht-Konzert die Autorin ein, die mir vor zwei Tagen erzählt hat, sie gehöre zu den wenigen Menschen, die die verschiedenen Arten von Spechten allein durch ihren seltenen Ruf voneinander unterscheiden könne. Tatsächlich hat mich das ziemlich beeindruckt, mein ornithologisches Gehör ist mangelhaft ausgeprägt. Ich folge immer bloß dem Hämmern und Klopfen und schaue in die Bäume. Meistens finde ich den Vogel, deutlich seltener aber auch mal einen Handwerker. Das nächste Mal werde ich durch den Wald laufen, bis ich dieses mystische Tier, diesen Wanderer zwischen Ober- und Unterwelt, nicht nur sehe, sondern auch seinen leisen Schrei höre. 

Gierig und durstig versammelt sich ein aufgekratztes Publikum, um „Buntspecht“ zu hören. Die Vorband „Edwin & Die üblichen Verdächtigen“ erntet viel Begeisterung. Der Sänger trägt eine durchsichtige weiße Spitzenbluse, die sich wie eine zweite Haut an ihn presst, dabei von der ersten Haut viel sehen lässt und vor allem an den Ärmeln mit Puscheln besetzt ist. Diese Band riecht so sehr nach meinem Wien, wo ich jahrelang glücklich war, dass ich mich auf einmal hier mitten in Salzburg fühle, als wäre ich nach Hause gekommen. 

 

 

Das Publikum ist zeitlos alt und jung, da sind Menschen mehr als zwanzig Jahre älter ebenso wie mehr als zwanzig Jahre jünger als ich. Buntspecht macht es einem generationenübergreifend nicht schwer, sie zu lieben. Wir sind in erregter Erwartung. Das Rentnerpaar hinter mir flüstert in der Pause zwischen den Bands nach Art der Schwerhörigen sehr laut. Der alte Charmeur sagt seiner tatsächlich außergewöhnlich schönen Begleitung, sie sei die schönste Frau in der ganzen Halle. Sie lacht. Erzähl mir eine Lüge, die ich glaube.

Der Marihuana-Rauch kämpft mit der Nebelmaschine um die Hoheit im Saal, beide kriechen sie gemeinsam immer höher und verwandeln sich in psychedelische Wolken auf dem Bühnenbild mit schwarzem Hintergrund. Wir werfen unsere Arme in die Luft und singen alle zusammen „heute ist es schön“ und den Gesichtern um mich herum sehe ich an, dass es wahr ist. Für die Zeit des Konzerts werden ich und du ununterscheidbar, wir werden eine Harmonie mit den Menschen, den Instrumenten, der Musik, wir fließen den Fluss hinab. 

Heute Nacht sind wir verrückt genug, um uns in dieser Welt zu verlieben. Unsere Tränen laufen in Sturzbächen an uns hinab zum Boden und vermischen sich dort mit den Bierlachen zu einer einzigen großen Pfütze, tief genug, um sich darin gegenseitig zu ertränken. Wir singen und tanzen so lange, bis wir die Musik berühren können, und noch viel weiter. Wir sind. Wir sind Musik und der Buntspecht sieht, dass uns das Leben schmeckt, bevor wir verschwinden. 

 

Text und Foto: Sanna Konda

 

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