„Sag mir die Wahrheit über die Liebe“ – Ein Gedicht für den Weg
An meinem zweiten Tag in Walldorf habe ich eine Veranstaltung mit dem Titel „Shared Reading“ besucht, die mir so gut gefallen hat, dass ich dieses monatliche Event in meinen Kalender einbaue, wann immer es möglich ist. Mit meinem zwischen ein bisschen zu vielen Lebensmittelpunkten hin- und hergerissenen Leben scheint es mir dann wie ein kleines Wunder, wenn ich, wie heute, mal wieder in der Stadtbücherei von Walldorf bin und der Stimme von Gerhard König-Kurowski lausche.
Das Konzept des Abends ist denkbar einfach und jeder kann jederzeit einsteigen, Vorwissen oder Vorbereitung sind nicht notwendig. Man braucht lediglich offene Ohren. In drei Abschnitte aufgeteilt liest uns König-Kurowski eine Kurzgeschichte vor. Zwischen diesen Leseeinheiten sprechen wir über unsere Eindrücke von dem Text. Wir rätseln über den weiteren Verlauf der Geschichte und teilen unsere Einschätzung der Charaktere oder die Begeisterung für sprachliche Finessen miteinander.
Beim ersten Shared Reading, bei dem ich dabei war, saßen wir im August im Innenhof der Bücherei unter dem Blätterdach der Bäume, durch das einzelne Abendsonnenstrahlen schienen. Der Rest der Bevölkerung tummelte sich am Badesee. Wir lasen gemeinsam Tobias Wolfs Kurzgeschichte „In Erwartung weiterer Befehle“, deren Spannungsbogen uns ganz schön in Atem hielt. Der Zauber der Veranstaltung liegt in dem einfachen Prinzip, dass wir viel lernen, wenn wir unsere Beobachtungen und Gedanken zu einem Text teilen. Da entstehen ganz ungeahnte Perspektiven und plötzlich bekommt auch eine vielschichtige Geschichte noch ein paar Schichten dazu.
Ich kenne das natürlich von der Universität, diesen produktiven Austausch über die Lektüren (allerdings haben wir da alle schon zuhause den Text gelesen oder tun zumindest so). Das Shared Reading hat für mich den klaren Vorteil, dass ich hier nicht die Universitätsdozentin bin, auch nicht die Autorin oder Lektorin. Ich darf es mir hier in meiner Lieblingsrolle bequem machen und das ist die der Leserin. Dass uns vorgelesen wird, ist ein besonderes Vergnügen, ein kindliches fast. König-Kurowski nimmt sich die Zeit, ganz langsam unser Interesse für die Geschichte anzufachen, die uns in diesem Drei-Gänge-Menü von Buchstaben dargeboten wird. Das Vorlesen verlangsamt unsere Wahrnehmung der Welt und schärft gleichzeitig alle Sinne. Wir sitzen unter denselben Bäumen, haben dieselbe Stimme im Ohr, aber in unseren Köpfen entstehen unterschiedliche Bilder.
Am Anfang, nach der ersten Vorlese-Runde, sind wir noch schüchtern. Niemand muss etwas sagen, aber wie aus dem nichts entsteht aus einer Nachfrage oder dem Wunsch, einen Eindruck zu teilen, doch ein Gespräch. Und die blitzeblauen Augen von König-Kurowski lächeln immer zustimmend und lassen alles gelten. Deswegen fällt uns allen immer noch etwas ein, bevor das Gespräch doch wieder verstummt, weil wir so neugierig auf den nächsten Teil der Geschichte sind. Nach dem zweiten und dritten Vorlesen sind wir nicht mehr schüchtern. Da wartet schon in jedem Menschen etwas, das dringend gesagt werden will, eine ganz eigene Interpretation, jede hat ihre Berechtigung. Am Ende der Veranstaltung haben wir aus einer Kurzgeschichte einen Diamanten gebaut, in dem alle Perspektiven enthalten sind. Wir haben aber auch etwas über das Denken und Fühlen der Anderen gelernt und die verblüffende Erfahrung gemacht, dass unsere Wahrnehmungen sich ähneln oder ganz verschieden voneinander sein können. Auch die Differenzen zu erkennen, verbindet uns miteinander. Es ist schön, dass wir darüber gesprochen haben; eine kleine Gemeinschaft hat sich gebildet.
Zum Abschied wird uns wie ein Weg-Bier ein Gedicht mitgegeben – uns es ist mindestens genauso berauschend. Das Gedicht wird zwar noch vorgelesen, wir sprechen aber nicht mehr darüber. Manchmal muss doch noch jemand schnell sagen, dass die Kurzgeschichte und das Gedicht sehr gut zusammenpassen. Oder zwei ältere Damen empören sich auf dem sich in die Länge ziehenden Weg von drei Treppen in der Bücherei (im Winter sitzen wir gemütlich ganz oben unter dem Dach) über die kryptische Form des Gedichts. Wie kann das sein, dass in Rose Ausländers Gedicht „Chance“ dem Fels Flügel wachsen? Da müssten wir doch wirklich noch drüber reden!
Das jeweilige Gedicht hallt auf dem Heimweg in unseren Köpfen nach. Auch ich bringe manchmal Gesprächsbedarf mit nach Hause. Eines der Gedichte hat mich tief beeindruckt, es heißt: Sag mir die Wahrheit über die Liebe. Ich lese es meinem Mann vor, der in meiner Künstlerwohnung mit einem Buch auf der Couch liegt, neben ihm ein Glas Wein. Ich lese erst auf Deutsch und dann improvisiere ich eine sehr schlechte Übersetzung für ihn ins Englische. Er guckt irritiert. Das klingt schön, sagt er, aber er verstehe nicht alles. Er deutet leise an, dass meine Übersetzung möglicherweise Murks ist. Vielleicht hat das Internet eine bessere. Er fragt mich nach dem Namen des Autors. Ich drehe das Blatt mit dem Gedicht um, auf der Rückseite steht: W. H. Auden: Tell me the truth about love.
Mein Mann empört sich so darüber, dass wir in einer deutschen Bücherei englische Poesie lesen und ich ihn noch dazu mit einer verqueren Rückübersetzung belästige, dass er von der Couch aufspringt. Ich schiele kurz nach der Weinflasche, um zu gucken, wie viel davon schon getrunken wurde. Er findet das Original sofort im Internet. Die eine Hand mit dem Smartphone bewegungslos vor den Augen, die andere wild gestikulierend, tigert mein Mann durch die Künstlerwohnung und rezitiert lautstark das Gedicht. Es ist das zweite Mal an diesem Tag, dass mir ein Mann mit blitzblauen Augen zum Vorleser wird. Ich nehme einen Schluck aus dem Weinglas meines verrückten Mannes und genieße die Szene. Für einen Moment bin ich die Lucile aus Büchners „Dantons Tod“: Ich höre nicht richtig hin und doch höre und lausche und schaue ich. Einen Moment lang habe ich meinen Redebedarf ganz vergessen, da sind gar keine Fragen mehr zur Wahrheit über die Liebe.
W. Auden:
Sag mir die Wahrheit über die Liebe
Man sagt, die Liebe sei ein Kind,
Man sagt, dass sie oft gurrt,
Man sagt, sie dreht die Welt herum,
Und dann, das sei absurd.
Als ich den Nachbarn fragen ging,
Der tat, als wüsste er,
Da wurde seine Frau sehr bös
Und sagte: viel zu schwer!
Sieht sie aus wie die schönen Pyjamas,
Oder eher wie Schinken im Saft?
Riecht sie streng wie eins von den Lamas,
Oder duftet sie voller Kraft?
Ist sie kratzig wie Gartenhecken,
Oder weich wie der Flaum einer Gans?
Ist sie scharf oder weich an den Ecken?
O Liebe kennt niemand so ganz.
Die Bücher berichten nur wenig
Und wirklich nicht sehr klar,
Doch immerzu ist sie ein Thema
Auf Dampfern an der Bar;
Ich fand sie auch als häufigen Grund
Für Tod und Suizid,
Auf Zugfahrplänen sah ich sie
Erwähnt in einem Lied.
Heult sie nachts wie ein Wolf nur aus Laune
oder dröhnt sie wie eine Band?
Spielt sie jemand auf einer Posaune
Oder auf einem Steinway Grand?
Ist ihr Vortrag auf Partys lebendig?
Mag sie eher den klassischen Tanz?
Ist sie leise und zeigt sich verständig?
O Liebe kennt niemand so ganz.
Ich schaute nach im Sommerhaus
Und auch bei Vaters Gruft:
Ich prüfte die Themse bei Maidenhead
Und Brighton’s frische Luft.
Ich weiß nicht, was die Amsel sang,
die Tulpe sprach kokett,
Doch war sie nicht im Hühnerstall
Und auch nicht unterm Bett.
Zieht sie manchmal verrückteste Fratzen?
Macht das Schaukeln sie schwindlig im Kopf?
Liebt sie Rennen nur, um dort zu schwatzen
Oder kratzt sie sich ständig am Schopf?
Denkt sie nach über Kapitalismus?
Bietet Heimat für sie Stimulanz?
Ist sie selbstlos oder voller Narzissmus?
O Liebe kennt niemand so ganz.
Wenn sie kommt, tritt sie auf mit Allüren?
Ist sie so wie ich sie mir vorstellen muss?
Klopft sie morgens an all meine Türen
Oder tritt sie mir im Bus auf den Fuß?
Wird das Wetter von ihr wahrgenommen?
Wird sie freundlich sein voll Larmoyanz?
Wird mein Leben durch sie erst vollkommen?
O Liebe kennt niemand so ganz.
(Ins Deutsche übertragen von Ulrich Kusenberg)
H.W. Auden:
O Tell Me The Truth About Love
Some say love’s a little boy,
And some say it’s a bird,
Some say it makes the world go around,
Some say that’s absurd,
And when I asked the man next-door,
Who looked as if he knew,
His wife got very cross indeed,
And said it wouldn’t do.
Does it look like a pair of pyjamas,
Or the ham in a temperance hotel?
Does its odour remind one of llamas,
Or has it a comforting smell?
Is it prickly to touch as a hedge is,
Or soft as eiderdown fluff?
Is it sharp or quite smooth at the edges?
O tell me the truth about love.
Our history books refer to it
In cryptic little notes,
It’s quite a common topic on
The Transatlantic boats;
I’ve found the subject mentioned in
Accounts of suicides,
And even seen it scribbled on
The backs of railway guides.
Does it howl like a hungry Alsatian,
Or boom like a military band?
Could one give a first-rate imitation
On a saw or a Steinway Grand?
Is its singing at parties a riot?
Does it only like Classical stuff?
Will it stop when one wants to be quiet?
O tell me the truth about love.
I looked inside the summer-house;
It wasn’t over there;
I tried the Thames at Maidenhead,
And Brighton’s bracing air.
I don’t know what the blackbird sang,
Or what the tulip said;
But it wasn’t in the chicken-run,
Or underneath the bed.
Can it pull extraordinary faces?
Is it usually sick on a swing?
Does it spend all its time at the races,
or fiddling with pieces of string?
Has it views of its own about money?
Does it think Patriotism enough?
Are its stories vulgar but funny?
O tell me the truth about love.
When it comes, will it come without warning
Just as I’m picking my nose?
Will it knock on my door in the morning,
Or tread in the bus on my toes?
Will it come like a change in the weather?
Will its greeting be courteous or rough?
Will it alter my life altogether?
O tell me the truth about love.
Text: Sanna Konda
Foto: Stadt Walldorf