Ein Traum
In den frühen Morgenstunden wache ich auf mit der Erinnerung an einen Traum, in dem ich Schnaps trinke (oder auch nicht). Einen richtigen Schwips hatte ich in dem Traum und war ganz albern. Dass man sich einen Rausch träumen kann, ist mir ganz neu. Ich nehme mir vor, in meinen Träumen mehr zu trinken.
Der Traum spielt in der Zukunft. Nach meinem Urlaub auf Island in den kommenden zwei Wochen bin ich für längere Zeit ohne meinen Mann in Walldorf. Ein Partner, so hatte mich die Verwaltung der Stadt wissen lassen, sei nämlich in der Scheune gar nicht vorgesehen. Interessant ist das eigentlich, so stellt man sich das also vor: Für die Kunst braucht es Einsamkeit. Bei mir ist das nicht unbedingt so und deswegen habe ich eine Freundin, Agnes, eingeladen, die tatsächlich in Erwägung zieht, für ein oder zwei Tage den ganzen, weiten Weg von Wien nach Walldorf zu machen. In meinem Traum haben wir zusammen die Weinschenke am Markt besucht und wollen – wieder zurück in der Scheune – noch ein wenig von dem Kirschbrand trinken, eine lokale Delikatesse, die oben auf dem Regal neben dem isländischen Gin steht.
Es gibt ein paar Weingläser in der Scheune. So stellt man sich das also vor, der Künstler trinkt Wein und macht Kunst. Es gibt allerdings keine Schnapsgläser in der Scheune. So stellt man sich das also nicht vor, der Künstler trinkt Schnaps und fällt um.
Wir kichern, die Scheune um uns herum scheint sich unter diesem nachtblauen Himmel, der zum Fenster hineinleuchtet, manchmal ein bisschen Richtung Kirche zu drehen. Kein Schnapsglas zu haben, sollte ja kein Hindernis sein, aber betrunkene Menschen können aus einem kleinen Mangel ein großes Abenteuer machen. Mein Gedankengang ist ungefähr folgender: In meinem oft sehr provisorischen Leben habe ich schon manches Mal Schnapsgläser als Eierbecher benutzt (das Ei sitzt dann so gemütlich auf dem Glas, als wäre dieses tatsächlich genau dafür gemacht), das müsste auch andersrum gehen. Es gibt in der Scheune auch keine Eierbecher, allerdings gibt es ungewöhnlich viele Eierbehältnisse für den Kühlschrank, diese komischen Plastikteile mit den Mulden. Wir haben sie in allen Größen; in den großen – die haben fünfzehn Mulden in drei Reihen – macht mein Mann oft Eiswürfel, die kleinen mit vier Mulden benutzen wir zum Servieren unserer Frühstückseier. Manchmal hat jeder von uns sein eigenes Eierbehältnis, dann bleiben immer drei der Mulden leer. Manchmal, und das sind dann sehr intime Momente, benutzen mein Mann und ich nur eines der Eierbehältnisse für unsere Frühstückseier, die sich dann diagonal gegenüber sitzen und von uns in allernächster Nähe zueinander verspeist werden.
Ich nehme einen dieser viermuldigen Eierbehältnisse und gieße Schnaps in eine Mulde, einen guten Schluck, die Größe des provisorischen Schnapsglases scheint mit dem eines echten so ziemlich übereinzustimmen, was Agnes und mich in Begeisterung versetzt. Wegen der Intimität der Eier und weil ich mit Agnes Brüderschaft trinken will (die Betrunkenheit reicht schon aus, um nicht mehr Schwesternschaft zu denken oder überhaupt noch einen Unterschied zwischen Brüdern und Schwestern zu machen), gieße ich für Agnes den Schnaps in die diagonal gegenüberliegende Mulde. Das sieht schön aus, die blutrote Flüssigkeit in den grauweißen Plastikmulden, wir gucken uns das ganz andächtig an. Dann aber stutzen wir. Wir haben nicht zu Ende gedacht. Nicht nur können wir jetzt gar nicht gleichzeitig trinken, ein Problem, für das wir eine Lösung gefunden hätten, auch kann keine von uns trinken, ohne sich gleichzeitig den Schnaps der anderen über das Gesicht zu kippen. In unser schallendes Lachen, das lange anhält, ist eine existenzielle Verwunderung gemischt über das kleine Kunstwerk eines Dilemmas, das wir fabriziert haben.
Beim Aufwachen lache ich immer noch. Es dämmert gerade erst, ich erzähle meinem Mann meinen Traum. Während das Zimmer langsam heller wird und er wieder anfängt, zu schnarchen, kriecht in meinem Bauch noch eine Albernheit herum, die mir den Schlaf raubt. Unbedingt muss ich Agnes dazu bewegen, nach Walldorf zu kommen und diese Schnapsszene nachzuspielen. Ob es möglich ist, ein Déjà-vu zu inszenieren?
Ich stelle mir vor, wie ich den Bürgermeister überrede, ein paar Flaschen Schnaps zu kaufen und bei meiner Lesung im Innenhof der Bücherei einen Ausschank zu veranstalten. Alle müssen von Zuhause einen Eierbecher mitbringen, damit machen wir erst eine kleine Ausstellung, dann wird daraus getrunken. Während der Lesung halte ich als Anschauungsmaterial die Eierbehältnisse aus dem Kühlschrank der Scheune in die Höhe. Agnes sitzt in einem weißen Anzug neben mir, schenkt uns parallel zu meiner Lesung ein und trinkt am Ende aus dem reinszenierten Kunstwerk, so dass der zweite Schnaps ihr ins Gesicht fällt. Ich will mein Lachen bremsen und im Kissen ersticken, aber mein Mann schläft sowieso ungestört weiter und die Gedanken in meinem Kopf spinnen sich weiter, die lassen sich nicht bremsen. Vielleicht ist das das, was einen Künstler ausmacht: An entscheidender Stelle ist die Montage einer Bremse fahrlässig unterlassen worden.
Text: Sanna Konda