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Aufstand in Wiesloch – Protest gegen schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen

23. Januar 2023 | > Wiesloch, Bildung, Das Neueste, Leitartikel

Park PZN Wiesloch

Am 9. Januar 1919 demonstrierten mehrere Dutzend „Wärter“ der damaligen „Großherzoglichen Badischen Heil- und Pflegeanstalt bei Wiesloch“, dem heutigen Psychiatrischen Zentrum Nordbaden (PZN), gegen die dort herrschenden schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen.

Sie forderten neben der Einführung des 8-Stunden-Tages für das gesamte Anstaltspersonal und einer staatlich regulierten Ausbildung für Krankenpflege auch die Absetzung des Direktors und des Oberwärters. Die Demonstration vom 9. Januar war der Höhepunkt eines Aufstands, der nicht nur in der Anstalt selbst, sondern auch im badischen Innenministerium über Monate hinweg für Unruhe sorgte.

Die Arbeitsbedingungen in der 1905 eröffneten Heil- und Pflegeanstalt waren von Beginn an sehr schlecht, insbesondere für Wärterinnen und Wärter. Eine 80-Stunden-Woche, nur ein freier Tag alle zwei Wochen, strenge Ausgangsbeschränkungen, Bestrafungen für Verfehlungen wie nächtliches Lichtbrennen und die Pflicht, Kost und Unterkunft in der Anstalt zu nehmen, prägten den Alltag. Junge Wärterinnen verloren ihre Arbeitserlaubnis, wenn sie heirateten, da man ihnen unterstellte, dass sie ihre Aufgaben als Ehefrau und als Pflegekraft nicht vereinbaren konnten.

Sie lebten deshalb praktisch zusammen mit den Patienten in den Mansarden der Krankenbauten, waren fast unmündig und blieben nur wenige Jahre im Beruf. Das gesellschaftliche Ansehen des Wartberufs war im Gegensatz zur meist christlich organisierten Krankenpflege von Abneigung und Abscheu geprägt. Sie standen auf einer sozialen Stufe mit Laufburschen oder Prostituierten und der Verdienst war gering.

Der erste Weltkrieg verschlechterte die Verhältnisse in der Anstalt zunächst für die Patienten, aber auch für das Personal. Insbesondere die Knappheit an Nahrungsmitteln und Kohle machte sich stark bemerkbar. Die Sterblichkeit unter den Patienten stieg speziell in den letzten zwei Kriegsjahren deutlich an. 1918 grassierte auf der Frauenseite die Spanische Grippe, fast alle der über 120 Wärterinnen erkrankten und 15 von ihnen starben an den Folgen.

Am 9. Januar 1919 kulminierte die revolutionäre Stimmung in einer Demonstration von mehreren Dutzend männlichen Wärtern, die über das Anstaltsgelände marschierten und vor dem Wohnhaus des Direktors sowie dem Verwaltungsgebäude ihre Forderungen lautstark äußerten. Einen Tag später verfassten sie einen Brief, unterzeichnet von insgesamt 86 Wärtern, an das badische Innenministerium, in dem sie insgesamt 20 Forderungen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen formulierten.

Krankenwächter der Anstalt in Dienstuniform (um1920)

Krankenwächter der Anstalt in Dienstuniform (um 1920) – Bildquelle: forschung-bw.de

Was waren die Forderungen im Einzelnen?

Eine drastische Verkürzung der täglichen Arbeitszeit, die bis dato mehr als 12 Stunden betrug, stellte die Hauptforderung der Demonstranten dar. Die Wieslocher Wärter forderten die Einführung des 8-Stunden-Tages, ähnlich wie es auch die Arbeiter in den Fabriken forderten. Eine staatlich geprüfte Ausbildungsverordnung wurde ebenfalls gefordert, um sowohl die Professionalität der „Irrenpflege“ zu steigern als auch den Wärtern und Wärterinnen mehr Arbeitsrechte einzuräumen.

Weitere Forderungen, wie 52 mehr freie Tage pro Jahr, die selbstständige Einteilung der Schichten, zielten auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ab. Eine deutliche Gehaltsaufbesserung und die Abschaffung des Kost- und Logiszwangs sollten die Lebensbedingungen für die Bediensteten verbessern, die in den Anstalten leben und von ihnen versorgt werden müssen.

Was waren die Folgen des Aufstands in Wiesloch?

Der Bericht einer Untersuchungskommission führe zu hitzigen Diskussionen im badischen Landtag.

In der Folge wurde eine eigens einberufene Kommission aus Abgeordneten aller im Landtag vertretenen Parteien beauftragt, die 5 badischen Heil- und Pflegeanstalten zu begutachten, um sich ein Bild über die dort herrschenden Bedingungen für Personal und Patienten zu machen. Auch in den anderen badischen Anstalten wurden Forderungen seitens des Personals erhoben, jedoch waren die Auswirkungen deutlich geringer. Die Kollegen in den anderen Anstalten distanzierten sich derweil von den Wieslocher Aufständischen und wollten „nicht mit den Wieslocher Kollegen auf eine Stufe gestellt werden.“

Am 1. Juli 1920 fand eine Sondersitzung des Landtages statt, in der die Situation der Heil- und Pflegeanstalten diskutiert werden sollte. Die Grundlage hierfür bildete der Abschlussbericht der Kommission. In einer hitzigen Diskussion wurden die Ereignisse in Wiesloch als Anlass genommen, um über Moral, Sittlichkeit und Einstellung zur Arbeit zu streiten. Konservative Kreise sahen die Schuld für die Unruhen in Wiesloch allein beim „unstatthaften“ Verhalten des Personals und betonten, dass das Personal von besonderer Güte sein muss.

„Wenn man sich Krankenpflegerin nennen will, muss man wissen, dass man nicht Fabrikmädel und auch nicht Kellnerin ist“; es bedarf an Herz für die Arbeit, Opferbereitschaft, Mitleid und Barmherzigkeit für die Kranken sowie Selbstentsagung bis fast zur Selbstleugnung. Sie sollen das „Dienen in den Vordergrund stellen und nicht das Verdienen, die Entlohnung, die sie dafür erhalten, als die Hauptsache ihrer Arbeit erscheinen lassen.“. Man hält eine gewisse religiöse Grundlage für nötig“ und man solle bei der Personalbeschaffung bereits besonderen Wert auf die religiöse Sittlichkeit legen.“ – Zitat des Abgeordneten Fehn. Johann Georg Fehn (* 20. April 1880 in Kreuzwertheim; † 5. November 1950 in Karlsruhe) war ein deutscher Pfarrer und Politiker. 

Sozialdemokratische Kreise kritisierten diese Haltung und empfanden es als Angriff auf das Proletariat, da davon ausgegangen wurde, dass nicht religiös gesinntes Personal nur geldgierig sei und zur Verrohung neige. Sie verwiesen darauf, dass es seit jeher Probleme zwischen dem Personal und der Führung in der Wieslocher Anstalt gab und dass die Anstaltsleitung an der Situation mitverantwortlich sei.
 
„Ich wage zu behaupten, daß wir, wenn das gesamte Personal in Wiesloch jetzt entlassen und dafür neues eingestellt würde, solches, von dem wir glauben, daß es das richtige sei, in einem Jahre in diesem Hause wieder eine Unterhaltung über Differenzen mit dem Personal in Wiesloch führen müssen. Es kommt eben auch darauf an, wie man es versteht mit dem Personal zu verkehren. Es kommt darauf an, ob man vergessen kann, was einstmals gewesen ist und ob man über diese Dinge hinwegkommt.“ – Zitat vom sozialdemokratischen Innenminister Remmele.

Im Hintergrund der sozialen Gesetzgebung der Weimarer Republik wurden erste reformpsychiatrische Ansätze verfolgt und vielschichtige Verbesserungen für das Personal in den Heil- und Pflegeanstalten der neuen Republik erreicht. Die Arbeitszeit wurde in allen badischen Anstalten von über 80 auf 52 Wochenstunden drastisch reduziert. Um den Ausgleich der fehlenden Arbeitszeit zu gewährleisten, wurden in Wiesloch 96 Pflegerinnen und Pfleger eingestellt, was einer Aufstockung des Personals um 31,5% entsprach. Dem Personal wurden bis zu 84 freie Tage pro Jahr zugestanden, ein Plus von ca. 25 bis 30 Tagen. Der Kost- und Logiszwang wurde für verheiratete Wärter aufgehoben, sie durften nunmehr mit ihrer Familie auch außerhalb des Anstaltsgeländes wohnen.

Der ausgemachte Rädelsführer des Wieslocher Aufstands, Wärter Fahrlacher, wurde in beiderseitigem Einvernehmen aus der Anstalt versetzt. Aufgrund der Wohnungsnot in den frühen 20er Jahren musste Fahrlacher jedoch noch über Monate hinweg in der Anstalt wohnen bleiben, da für ihn und seine Familie keine geeignete Dienstwohnung gefunden werden konnte, was vor allem für die Klinikleitung untragbar gewesen sein muss.

Anstaltsdirektor Fischer blieb jedoch in der Anstalt bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1927, obwohl er sich angeboten hatte, sein Amt aufgrund eines fehlenden Nachfolgers weiter auszuführen. Die badische Landesregierung entschied sich trotzdem, ihn in den Ruhestand zu schicken, wahrscheinlich aufgrund seines autoritären Charakters.

Während der Revolution von 1918/19 kämpften Arbeiter in allen Bereichen der Wirtschaft und Industrie für Verbesserungen, ebenso auch in staatlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Sanatorien und Heil- und Pflegeanstalten. Die Aufstände in Wiesloch können hierbei als ein sehr lautstarkes Beispiel betrachtet werden. Nicht alle waren jedoch über die Verbesserungen erfreut, wie eine Bemerkung des Direktors Fischer im Jahresbericht 1920 zeigt:

„Die geringe tägliche Arbeitszeit des gesamten Anstaltspersonals und des Pflegepersonals im besonderen führt naturnotwendig entweder zur ungesunden Verwendung der reichlichen Freizeiten oder zu übermäßigen Betätigungen in eigenen Interessen und Geschäften, beides mit der Folge der Schlaffheit im Dienst und der Interessenslosigkeit am Dienst.“ (Aus dem Jahresbericht 1920 der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch, Max Fischer)

Pflegeberufe gestern und heute

Heute schreiben wir das Jahr 2023 und immer noch sind die Menschen, die in Pflegeberufen arbeiten, unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen.

Hundert Jahre nach dem Aufstand in Wiesloch und dem Protest gegen schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen fand auch 2019 eine Protestkundgebung statt.

Siehe nachfolgende Presseartikel zum Thema Warnstreik am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch:

Erster Kurzwarnstreik im Psychiatrischen Zentrum Wiesloch

Auch im Jahr 2020 wurde gestreikt:

Nach zweitätigem PZN-Streik in Wiesloch – Verdi:”Noch kein Signal der Geschäftsleitung für Länder-Tarif”

Im Jahr 2022: „Ver.di will kräftige Lohnerhöhungen für die Beschäftigten der Servicetochter am Psychiatrischen Zentrum in Wiesloch aushandeln. Zum Verhandlungsstart am 31.August in Wiesloch beteiligen sich 100 Service-Beschäftigte aus Küche, Wäscherei & Co an einer Pausen-Aktion.

Wiesloch: ver.di will kräftige Lohnerhöhungen

„Butter ist das beste Beispiel, dass die Löhne gerade für Beschäftigte im niedrigeren Lohnbereich wegschmelzen. Für eine Butter muss ich 50 Prozent mehr als noch vor einem Jahr ausgeben, für Lebensmittel im Durchschnitt 15 Prozent mehr. Die Kolleg*innen machen ihre Arbeit im Service, der Küche und Wäscherei des Psychiatrischen Zentrums wirklich gerne. Sie müssen es sich aber weiter leisten können, hier zu arbeiten. 300 Euro im Monat mehr bedeutet für eine Kollegin in Vollzeit etwa zwischen 11,4 und 13 Prozent mehr Geld in der Tasche. Das ist nicht zu viel verlangt.“ äußert sich Monika Neuner, Verhandlungsführerin von ver.di Rhein-Neckar in einer Pressemitteilung.

Quellen und weiterführende Informationen:

Stefan Kiefer, Heidelberg, Januar 2019: Die Wieslocher Revolution

Text: Robert Pastor

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