Der Chor als gesellschaftliches Experimentier- und Entdeckungsfeld
Der Mensch ist im Grunde seines Wesens ein zutiefst soziales Wesen. So war die Corona-Pandemie eine echte Prüfung zwischenmenschlicher Beziehungen. Welche Freude also, als die Beschränkungen fielen und sich alle wieder, wenn gleich mit bedachter Vorsicht, begegnen konnten. Das stellt auch die Protagonistin des fünften Romans der Stuttgarter Autorin Anna Katharina Hahn fest.
Büchereileiterin Barbara Grabl freute sich, die mehrfach ausgezeichnete Autorin in Walldorf begrüßen zu können. „Ich habe das Thema für mich entdeckt während der Corona-Pandemie,“ sagte Hahn. In dieser Zeit haben Chöre nach ihrer Beobachtung stark gelitten. Es sei schwierig gewesen, zu proben, egal ob online oder mit offenen Fenstern oder im Park mit störenden Nebengeräuschen.
Ein Laienchor wie die porträtierten Cantarinen ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Das Spannungsfeld zwischen einer allerorten angestrebten Individualität und dem als Ganzes agierenden Chor reizte Hahn in dieser Konstellation zusätzlich. Jede ihrer Sängerinnen charakterisiert sie mit einem Lieblingssong. Für alle besonders interessierten Leser gibt es bei Spotify eine vollständige Playlist unter AnnaKatharinaHahn: DerChor.
Eine nette ergänzende Idee, wie auch der literarische Kniff, in den Haupterzählstrang noch kleine märchenhafte Binnenerzählungen einzustreuen. Mit denen werden, vornehmlich in Rückblicken, Entwicklungen erzählt, die zu den jeweiligen Beziehungen zwischen den Akteuren geführt haben. An diesem Abend stellte die Stuttgarterin ihre Hauptprotagonistinnen vor und las aus vier Abschnitten des Romans.
Da ist die Hauptfigur Alice, die als 50-jährige „Neigschmeckte“ und erfolgreiche Personalchefin eines Luxuskaufhauses zur gehobenen Stuttgarter Gesellschaft gehört. Aus ihrer Perspektive entwickelt sich die Geschichte des Romans. Ihren Sinn für Humor beweist Hahn, indem sie Alice ausgerechnet in Stuttgart einen Audi fahren lässt.
„Ein Chor,“ betonte Hahn, „bringt unter Umständen Menschen zusammen, die sich sonst nie getroffen hätten.“ So bringt das Auftauchen der Literaturwissenschafts-Studentin Sophie im Gefüge des Chores und vor allem in der Gefühlswelt von Alice einiges durcheinander. Die junge Frau, die zwischen Volieren mit einer Schar Erlenzeisigen und Farbmäusen lebt, bleibt an diesem Abend ein kleines bisschen rätselhaft.
Der Roman führt eine Vielzahl von Themen zusammen. Einsamkeit und Verlassenheit von Jung und Alt, die in der Nach-Corona-Zeit eine prägende Rolle spielten, kommen genauso zur Sprache wie das gemeinsame Alleinsein in einer Ehe. Vor allem aber ist es ein Roman über Freundschaft und das nicht immer konfliktfreie Zusammenleben. Da gibt es zum Beispiel Marie, mit der Alice einst unzertrennlich war und die nun ein ungeklärtes Schweigen trennt. Hahn bemerkte dazu: „Alles will ich hier nicht verraten.“
Und dann wäre da noch Cora, die alleinerziehende Mutter, die aus prekären Verhältnissen kommt. Die ungelernte Pflegehelferin vertritt im Roman den unteren Rand der Gesellschaft und muss sich von ihren Mitsängerinnen einiges gefallen lassen. Lena hingegen ist die Älteste im Chor und eine der engsten Freundinnen von Alice. Sie steht mit den anderen weiß- und grauhaarigen Sängerinnen der Cantarinen stellvertretend für die zahlreichen Chöre, die mit Überalterung ihrer Mitglieder zu kämpfen haben.
„Musik transportiert Gefühle und Erinnerungen,“ konstatierte Anna Katharina Hahn am Ende ihrer Lesung. Sie selbst singe zwar nicht in einem Chor, gab sie auf Nachfrage aus dem Publikum zu, aber unter der Dusche schon. Nicht ganz glücklich schienen die im Publikum anwesenden Chorsängerinnen und -sänger mit der Auswahl der gelesenen Romanauszüge gewesen zu sein. In der anschließenden Fragerunde wollte eine Besucherin, die sich selbst als Chorsängerin zu erkennen gab, wissen, warum Beschreibungen der Probenarbeit in der Lesung keine große Rolle gespielt haben. Anna Katharina Hahn erläuterte, dass es ihr im Roman vor allem darum gegangen sei, die Freundinnen und ihre Beziehungen in den Vordergrund zu stellen.
Text und Foto: Stadt Walldorf