Jeder Garten ist ein Ökosystem
Mit dem Auftritt von Bärbel Oftring startet offiziell die Saatgutbücherei, ein Projekt, bei dem die Stadtbücherei Walldorf zum zweiten Mal mitmacht und Saatgut alter Gemüsesorten zum Ausleihen bereithält.
Das ist ganz im Sinne der Biologin Oftring, die von Stadtbüchereileiterin Barbara Grabl kurz vorgestellt wird und dem Publikum „viele neue Erkenntnisse“ wünscht. Diese werden in dem ausführlichen Vortrag auch vermittelt: Oftring spricht zunächst über die aktuelle Situation der Natur in Deutschland. Um diese sei es nicht gut bestellt. So gebe es kaum noch Flächen im natürlichen Winterzustand (braun und abgeblüht), wie Oftring bei einer mehrwöchigen Tour durch Deutschland festgestellt habe. Das mache es vielen Tieren immer schwerer, noch Nahrung zu finden.
Das Artensterben macht die Sachbuchautorin daher als „Riesenproblem“ aus und spricht auch die Ursachen an: „Wir überschreiten in vielen Bereichen das, was das irdische Leben hergibt, zum Beispiel durch Landnutzung und die damit einhergehende Versiegelung.“ Auch den Einsatz von Chemikalien und die Verschmutzung durch Plastik kritisiert Oftring und mahnt den Zustand der Biosphäre an. Das Handeln der Menschen sei oft widersprüchlich: Auf der einen Seite trage die Art, wie wir leben, zur Zerstörung von Natur und Umwelt bei, auf der anderen Seite schätzten die meisten eine intakte Natur als erholsam und wohltuend. „Natur macht uns glücklich“, sagt Oftring und verweist auf Studien, die unter anderem die glücksbringenden Effekte von Vogelgesang oder Bienensummen auf den Menschen belegen.
Die Biologin wirbt in ihrem Vortrag dafür, das Ökosystem als Netzwerk zu begreifen: „ein komplexes Gefüge im Miteinander.“ Und: „Es sind die Kleinsten, die das System am Laufen halten.“ Gemeint sind damit die Insekten, denen als Bestäuber, Nahrung für andere Tiere sowie als Aufräumer und Verwerter eine besondere Rolle in diesem empfindlichen Netzwerk zukommt. Die Situation sei alarmierend: In den letzten 25 Jahren seien rund 80 Prozent der Insekten verschwunden – mit fatalen Folgen für andere Tiere, vor allem Vögel, aber auch Pflanzen. Der Insektenschwund fördere die Selbstbestäubung bei Pflanzen, wodurch diese kleiner und schwächer würden. Als eine der Hauptursachen macht Oftring die landwirtschaftlichen Flächen aus, „die für Insekten so wertvoll sind wie ein geteerter Parkplatz“. Die Biologin hat aber auch „Gegenmaßnahmen“ im Gepäck: In Deutschland gebe es über 15 Millionen Gärten und 30 Millionen Balkone. Vor allem die Gärten könnten naturnahe Inseln sein, Brücken zwischen Naturräumen bilden und angrenzende Landschaften vernetzen. „Jeder Garten ist ein Ökosystem.“ Kein Wunder also, dass die Städte heute fast artenreicher seien als das Land.
Oftrings Empfehlung für die Gärten: Weniger ist mehr. Denn „wir wirtschaften in unseren Gärten wie draußen auf den Feldern“ – durch den Einsatz von Rasenmähern und Co. Das gefährde Tiere wie den Igel, „ein Allerweltstier eigentlich“, von dem es immer weniger gebe. „Wenn ein Igel bei Ihnen im Garten ist, haben Sie vieles richtig gemacht“, so Oftring. Sie wirbt für ein Umdenken im Umgang mit der Natur und dafür, Pflanzen und Tiere nicht in Kategorien wie nützlich oder schädlich einzuteilen. Lediglich vom Einsatz von Arten, die keinen Mehrwert für die Insektenwelt haben, wie beispielsweise dem Tatarischen Hartriegel oder dem Gewöhnlichen Schneeball, rät sie ab. Stattdessen empfiehlt sie heimische Wildarten wie den Blutroten Hartriegel, Holunder und Felsenbirne. Auch die Purpur-Weide sei „absolut insektenreich“.
Wer es gerne bunt im Garten hat, sollte sich nach den Farben Weiß, Gelb, Blau und Violett richten – diese seien für Insekten besonders interessant, während Rot für Bienen beispielsweise unsichtbar sei. Auch für Balkone („sind wichtige Rastplätze“) hat die Biologin Tipps: „Stellen Sie Behälter mit Wasser auf – das danken Ihnen zahlreiche Tierarten, vor allem im Winter.“ Zusätzliches Salz würden Schmetterlinge gerne annehmen. Für sie empfiehlt Oftring außerdem den Einsatz von Brennnesseln, der bevorzugten Nahrung vieler Raupen. Und wo wenig Sonne sei, könne man gut Kapuzinerkresse anpflanzen.
Oftring hat noch viele nützliche Tipps für den Garten parat: Wo es geht, tote Bäume stehen lassen – Totholzhecken und Steinhaufen bieten einen wunderbaren Lebensraum, ebenso wie ein Sandarium. Außerdem empfiehlt sie, Regenwasser zu sammeln oder im Boden versickern zu lassen.
Nach dem Prinzip „weniger ist mehr“ rät sie, Laubbläser, Laubsauger, Mähroboter sowie mineralische Dünger zu entsorgen und stattdessen Rasenmäher mit rotierenden Schneiden zu verwenden. Ihr Motto für das Gärtnern lautet: „Geduld haben und die Natur machen lassen.“ Das danke einem auch der Rücken, wie Oftring lachend auf ihre Mutter Bezug nimmt – was auch im Publikum für Heiterkeit sorgt. Das Fazit von Oftring fällt am Schluss denkbar einfach aus: „Mehr Unordnung, Wildnis und Zufall zulassen.“
Text und Fotos: Stadt Walldorf