Wie Menschen in einem Krieg Normalität suchen
Der Journalist und Autor Stephan Orth war bereits mehrfach in der Stadtbücherei zu Gast und stellte seine Bücher vor, in denen er von seinen Couchsurfing-Erlebnissen auf der ganzen Welt berichtet. Im vergangenen Jahr war Stephan Orth noch mit seinem Buch „Absolutely ausgesperrt“ in Walldorf, in dem er von seinen Erlebnissen auf seiner England-Reise während der Corona-Pandemie erzählt, die viele skurrile Begegnungen parat hielt. Manche skurrilen Erlebnisse hatte Stephan Orth auch während seiner letzten Couchsurfing-Reise. Aber in einem ganz anderen Kontext: Orth bereiste für sein neues Buch die Ukraine – mitten im Krieg.
Es ist wohl seine persönlichste Reise: Seine Partnerin Julia ist Ukrainerin und lebt mit ihrer Familie in Kiew. Der Vater kämpft an der Front. Kiew sei so etwas wie seine zweite Heimat geworden, „ausgerechnet in dieser Zeit“. Seit Kriegsausbruch im Februar 2022 habe er etwa acht Monate im Land verbracht, erzählt Orth. 2023 habe er entschieden das Buch zu machen, auch um „hinzuschauen, was dort passiert“.
Das Couchsurfing gebe ihm die Möglichkeit, einen authentischen Einblick in das Leben der Menschen zu bekommen, erzählt Orth zu Beginn seiner Lesung, die er mit Fotos und Videos ergänzt. Am Anfang habe er Zweifel gehabt, ob es richtig sei, in einem Land im Krieg zu reisen und ein Buch über Couchsurfing zu schreiben. Auf der entsprechenden Internetplattform habe er zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer nach ihrer Meinung gefragt. Die Rückmeldungen seien sehr positiv gewesen. Einer hätte ihm geschrieben: „Ihr habt eine Million Ukrainer aufgenommen, da können wir auch einen Deutschen aufnehmen.“ Das hätte ihn in seinem Entschluss bestärkt das Projekt „Couchsurfing in der Ukraine“ durchzuführen, sagt Orth schmunzelnd.
Nach dem Start in Kiev ging es für Orth „in alle Himmelsrichtungen“, auch in die Nähe der Ostfront. „Man kann sich das Ausmaß der Zerstörungen gar nicht vorstellen“, schildert Orth seine Eindrücke. Bilder untermauern die schrecklichen Folgen des Krieges. Er habe an einer Stelle das Angebot einer Gastgeberin angenommen, mit ihr in die Nähe der Front zu fahren, um Dörfer mit Hilfsmitteln zu versorgen. Das von Schüssen durchsiebte und notdürftig reparierte Auto habe aber auf dem Weg dorthin seinen Geist aufgegeben, die ständigen Detonationen der nahe gelegenen Kriegshandlungen hätten dennoch Spuren bei ihm hinterlassen.
Orth schildert auch skurrile Momente: Einer der Gastgeber habe ihn zu einem Date mit einer Frau mitgenommen und gebeten, Fotos von ihnen machen. 800 Bilder seien an dem Abend entstanden. Erst habe er die Situation als etwas merkwürdig empfunden, dann aber realisiert, dass für das junge Paar solche Momente eine Form der Normalität darstellten. Normalität sei ein wicthiges Stichwort für Orth auf seiner Reise gewesen: Wie können Menschen in einem vom Krieg gebeutelten Land Normalität finden? „Man ist ständig nah dran an Katastrophen und trotzdem gehen die Menschen einem ganz normalen Leben nach.“ Apps, die vor Drohnen und feindlichen Fliegern warnen, oder angeben, wann es für wie lange Elektrizität gibt, seien ständige Begleiter im Alltag der Menschen – auch für ihn, als er im Land unterwegs war. Ständiger Sirenenalarm, der dazu aufruft Schutzräume zu suchen, wurde ebenso zur Normalität.
Orth geht auch auf sein Verhältnis zu Russland ein. Er hatte das Land vor einigen Jahren ebenfalls im Rahmen seines Couchsurfing-Projekts bereist. „Ich habe ganz tolle Menschen dort kennengelernt“, so Orth. Aber er frage sich heute auch: „Hätte ich genauer hinsehen sollen?“ Die Menschen lebten dort oft in einer anderen Realität, geprägt von täglicher Propaganda der Regierung. Beispiele davon hat Orth für seine Lesung mitgebracht. 2022 sei nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ein Trugbild über Russland geplatzt.
Seit dem Krieg spiele die Kunst eine große Rolle: Künstlerkollektive seien im ganzen Land aktiv, überall im öffentlichen Raum gebe es Kunst zu sehen, meistens würde der Krieg in vielfältiger Weise thematisiert, zum Beispiel durch kreative Schmähungen des Feindes, mal mehr, mal weniger subtil.
Bei all den schweren Momenten, die er erlebt habe, stellt sich Stephan Orth am Ende seine Lesung die Frage: Was macht noch Hoffnung? Und beantwortet sie auch selbst: „Die Menschen vor Ort.“ Daraufhin werden Videos gezeigt von Menschen, denen Orth während seiner Reise begegnet ist und die sich kurz in einer Grußbotschaft vorstellen. Hoffnung mache ihm auch seine Familie in der Ukraine. Und die zahlreichen Organisationen, die sich während des Krieges in der Ukraine gebildet haben, um Hilfe zu leisten. Als Beispiel nennt Orth die Organisation Repair together, in der sich vor allem junge Menschen engagieren und Zerstörtes wieder aufbauen.
Über die Ukrainer sagt Orth zum Schluss, bevor er noch Fragen aus dem Publikum beantwortet: „Das sind Menschen, die sich eine unglaublich positive Einstellung bewahrt haben.“
Ein Eindruck, den auch das Publikum bekommen haben dürfte, das den Auftritt des Autors mit viel Applaus belohnt.
Text und Foto: Stadt Walldorf