„Erinnerung schenken, ist ein Privileg, das wir viel mehr wertschätzen müssen.“
Es ist ein berührender Auftritt von Oskar Seyfert, einem 16-jährigen Jugendlichen, der am Samstag im evangelischen Gemeindehaus sehr offen aus seinem Leben erzählt. Keine Selbstverständlichkeit, denn Oskar Seyfert ist erst elf Jahre alt, als bei seinem 54-jährigen Vater die Diagnose Demenz gestellt wird.
Die Erinnerungen an diese für ihn und seine Familie schwierige Zeit hat Seyfert in einem Buch festgehalten, das den Titel „Vom Privileg, einen kranken Vater zu haben“ trägt. Zur Lesung aus seinem Buch hatte die Steuerungsgruppe „Demenz im Quartier“ eingeladen.
Oskar Seyfert ist mit seiner Mutter aus Hamburg nach Walldorf gekommen, um einige Passagen vorzulesen und sich den Fragen des Publikums zu stellen. Das ist nicht nur sehr zahlreich erschienen, sondern es haben sich auch etliche junge Menschen daruntergemischt. Sehr zur Freude der Verantwortlichen, allen voran Andrea Wirth, Verena Zeisler, Andrea Schröder-Ritzrau und Henriette Freidhof. Denn ihr Anliegen war es, eine Veranstaltung im Rahmen des Modellprojekts auf die Beine zu stellen, die vor allem junge Menschen anspricht. Pfarrerin Henriette Freidhof freut sich zu Beginn der Lesung daher umso mehr, viele junge Menschen aus der Gruppe der Konfirmanden begrüßen zu dürfen. Die Pfarrerin fungiert an diesem Abend auch als Moderatorin. Zuvor nimmt sie zusammen mit ihren Mitstreiterinnen aus der Steuerungsgruppe den Dank und die Anerkennung von Bürgermeister Matthias Renschler für das Engagement im Rahmen des Modellprojekts und für die Organisation der Veranstaltung entgegen. „Es ist uns als Stadt wichtig, das Gemeinwesen für Menschen mit Demenz zu sensibilisieren“, so Renschler, der damit den Erfolg des zweijährigen Modellprojekts anspricht und das Thema auch in Zukunft auf der Agenda der Stadt sieht.
Oskar Seyfert legt ohne Umschweife los und liest einige Passagen aus seinem Buch vor, die damit beginnen, sein Leben als Kind in einer privilegierten Familie zu thematisieren: „Damals habe ich mich oft gewundert, wie einfach das Leben so ist.“ Die folgenden Zeilen erzählen den Schnitt im Leben des Kindes, als der Vater die Diagnose Demenz erhält. Seyfert schildert in seinem Buch Erinnerungen, die den Charakter seines Vaters zeigen, und sagt dazu: „Davon hätte ich gerne mehr.“ Er erzählt auch, dass der Vater ihm einen Brief hinterlassen hat, den er aber erst mit 18 Jahren öffnen darf. „Der Brief treibt mich um“, gibt der junge Mann auf der Bühne zu, der sich vom Inhalt die Beantwortung einiger Fragen erhofft, die er seinem Vater nicht mehr stellen kann. Durch die jahrelange Erfahrung mit der Krankheit seines Vaters habe er gelernt: „Erinnerung schenken, ist ein Privileg, das wir viel mehr wertschätzen müssen.“
Schon nach der kurzen Lesung ist für die Besucher klar, dass trotz des schweren Schicksals, das Oskar Seyfert und seine Familie erleiden mussten, auf der Bühne ein aufgeräumt und reflektiert wirkender junger Mann sitzt, der mit seiner Situation nicht hadert, sondern versucht, Positives daraus zu ziehen. Dieser Eindruck verfestigt sich vor allem bei der anschließenden Fragerunde. Viele Gäste melden sich und fragen etwa nach dem Umgang innerhalb der Familie mit dem Vater, wie und ob sich Oskar Seyferts Kontakt zu seinen Freunden verändert habe, ob die Schulnoten unter der Situation litten oder ob es für ihn eine Erleichterung gewesen sei, als der Vater in der Endphase der Krankheit ins Heim kam. Letzteres bejaht Seyfert. „Es war notwendig, weil er ständig Betreuung brauchte.“ Trotz der Schwierigkeiten, die sich im Verlauf der Krankheit des Vaters im Alltag auftaten, habe es viele humorvolle Momente gegeben: „Ich glaube, das ist normal, in so einer Situation einen gewissen Humor zu entwickeln, auch als Bewältigungsstrategie“, reflektiert der junge Mann.
Eine Frau stellt schließlich die Frage, die wohl den meisten beim Lesen des Buchtitels durch den Kopf ging: „Warum ist es ein Privileg, einen kranken Vater zu haben?“ Oskar Seyfert stellt klar, dass es nicht darum gehe, die Krankheit an sich als Privileg zu sehen. Sondern die Privilegien, die für ihn daraus resultierten. Wie etwa, das Buch schreiben zu dürfen. Oder dass der Zusammenhalt innerhalb der Familie gewachsen sei. Generell wirbt Oskar Seyfert dafür, offen mit der Krankheit umzugehen. Er selbst habe in seinem Umfeld nie eine negative Reaktion darauf erlebt.
Die Reaktionen auf seinen Auftritt in Walldorf sind jedenfalls überaus positiv, was am anerkennenden Applaus am Ende des Abends abzulesen ist.
Text: Stadt Walldorf
Foto: Pfeifer